John Maynard

Eine Schiffsreise nach der Ballade von Theodor Fontane
Regie
Andreas Denk
Bühne
Andreas DenkGeorge Podt
Kostüme
Hannah Albrecht
Musik
Wiebe Gotink
Es spielen
Marion NiederländerMarie Ruback, Andreas Denk, Ullrich Wittemann, Peter Wolter
Musiker & Maschinisten
Toni Matheis, Yogo Pausch

Dauer

75 Minuten

Alter

Ab 13 Jahren

Premiere

10. Oktober 2008

Eine Schiffsreise nach der Ballade von Theodor Fontane. John Maynard ist ein Held. Als Steuermann lenkt er sein Schiff "Schwalbe" über den Eriesee von Detroit nach Buffalo. Die Stimmung unter den zahlreichen Passagieren an Bord ist ausgelassen, bis plötzlich aus dem Schiffsraum ein Schrei ertönt: "Es brennt!"

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Gedichte

„Es gibt Millionen Menschen, die noch nie ein Gedicht gelesen haben, und sie leben auch. Aber besser lebt es sich mit ihnen.“
Es ist klar, was der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki mit diesem Satz meinte, der seinem Vortrag „Lyrik wozu?“ entnommen ist. Aber ob er mit dieser Aussage Recht hat, muss angezweifelt werden. Jeder Song ist ein Gedicht, egal – ob sich „Herz“ auf „Schmerz“ reimt oder „Frauenknast“ auf „Du Spast“. Ob Kastelruther Spatzn oder Bushido, Volksmusik oder Rap, bei all dem Textmaterial handelt es sich streng genommen um Gedichte. So gesehen sind wir alle umschwirrt von Gedichten, ohne uns dessen bewusst zu sein: Songtexte, Sinnsprüche, Werbeslogans, Schülermerksätze, Lebensweisheiten, Kinderlieder – lauter Gedichte.

Die Geschichte vom heldenhaften Steuermann John Maynard, der sein Leben aus Pflichtbewusstsein opfert, gehört bis heute zu den bekanntesten und beliebtesten Balladen. Dass auch junge Leute noch immer der Frage begegnen, wer denn John Maynard war, manifestieren die unterschiedlichen Film-Bearbeitungen bei Youtube. Da wird Fontane dramatisch rezitiert oder cool gerappt, es gibt John Maynard als Animationsfilm mit Lego-Männchen ebenso wie Schultheater-Aufführungen, die der Frage nachgehen, was an Bord der „Schwalbe“ passierte.

John Maynard

John Maynard!
     „Wer ist John Maynard?“
John Maynard war unser Steuermann,
Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
             John Maynard.“
                     *
Die „Schwalbe“ fliegt über den Eriesee,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee,
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: „Wie weit noch, Steuermann?“
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund’:
Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund’.“

Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
Da klingt’s aus dem Schiffsraum her wie ein Schrei,
„Feuer!“ war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajüt’ und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.

Und die Passagiere, buntgemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich’s dicht,
Und ein Jammern wird laut: „Wo sind wir? Wo?“
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.

Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitän nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
„Noch da, John Maynard?“
     „Ja, Herr. Ich bin.“
„Auf den Strand! In die Brandung!“
     „Ich halte drauf hin.“
Und das Schiffsvolk jubelt: „Halt aus! Hallo!“
Und noch zehn Minuten bis Buffalo.
 

„Noch da, John Maynard?“ Und Antwort schallt’s
Mit ersterbender Stimme: „Ja, Herr, ich halt’s!“
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
Jagt er die „Schwalbe“ mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo.
                     *
Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!
                     *
Alle Glocken gehen; ihre Töne schwell’n
Himmelan aus Kirchen und Kapell’n,
ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
Und kein Aug’ im Zuge, das tränenleer.

Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
„Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
             John Maynard.“

Katastrophen

Katastrophen beschäftigen immer die Phantasie der Menschen und je grauenhafterund unglaublicher sie in Erscheinung treten, desto länger bleiben sie im Gedächtnis Aller. So liegt das Unglück von John Maynard zwar schon lange zurück, hat sich aber als grauenhafte Tragödie tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Einerseits erzeugen solche Katastrophen immer wieder Entsetzung und Abscheu, gleichzeitig beflügeln sie aber die Fantasie der Menschen. Was ist geschehen? Wer ist schuld? Wie hätte das Unglück verhindert werden können? Sogar aus der Tiefe des Meeres blubbert auf geheimnisvolle Weise die Frage an die Oberfläche: „Wer war John Maynard?“ 
Die Inschrift des Grabsteins berichtet von einem Helden, der seine heroische Tat mit seinem Leben bezahlt hat. Wer hat den Grabstein aufstellen lassen? Und aus welchen Motiven?

Balladen

Johann Wolfgang von Goethe hat die bis heute gültige Balladedefinition formuliert: „Die Ballade hat etwas Mysteriöses ... Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen ... Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, dass er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern soll. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um ... auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben, die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlussklanges, gibt dieser Dichtart den entscheidenden lyrischen Charakter.“ (J.W.v.Goethe, Gedichte, Hamburger Ausgabe).

Anders formuliert: Balladen erzählen dramatische, spannende Geschichten in komprimierter Form. Sie bringen die Sprache zum Klingen und arbeiten mit Stilmitteln, die den Verlauf der Geschehnisse beschleunigen oder bremsen können, um auf diese Weise Spannung zu erzeugen. Zeilenbruch und die strukturierende Einteilung in Verse sind solche Mittel, ebenso wie Wiederholungen, Klang- und Rhythmuswechsel. Zeitsprünge sind eine wichtige Erzählkomponente. Inhalte entstehen durch Bilder und Vergleiche („Gischt schäumt über den Bug wie Flocken von Schnee“), wodurch die Fantasie des Lesers zu Ausflügen in die eigene Vorstellungswelt aufgefordert wird.

Annäherung

Im vorigen Abschnitt sind alle Elemente genannt, aus denen Andreas Denk und Wiebe Gotink zusammen mit dem Ensemble die Ballade zu einer Theatervorstellung „transformiert“ haben. Da ist zunächst das Mysteriöse. Der gesamte Verlauf der Katastrophe steckt voller Rätsel. Wodurch wurde das Unglück ausgelöst? Darüber gibt es bis zum Schluss keine Klarheit. Aber man kann spekulieren. Unachtsamkeit. Technische Mängel. Fehlende Wartung. Menschliches Versagen. Ein Anschlag. Mangelndes Verantwortungsgefühl. 
Niemand hat den Versuch unternommen, die Flammen zu löschen. Vielleicht sind die Passagiere sofort angstgelähmt, oder sie sind naiv und voller Vertrauen in die moderne Technik und die Crew, wodurch sie viel zu lange kein Bewusstsein für die Gefährdung entwickeln. Oder sie sind einfach mit sich und ihrem Ego beschäftigt und bemerken die Gefahr viel zu spät. Um welche Persönlichkeiten handelt es sich eigentlich bei den Passagieren an Bord? Wie erleben sie eine derartige Bedrohung? Jeder reagiert unterschiedlich.

Wo der eine in Gefahr und großer Not über sich hinauswächst und mit klarem Kopf Rettungsaktionen initiieren kann, verfällt ein anderer, der im normalen Leben gerne in der vordersten Reihe den Ton angibt, in Selbstmitleid, die sich zu Todesvisionen steigern können. Von den Motiven des heldenhaften Steuermanns wird bei Fontane nichts berichtet. Warum wird das Gedenken an den Retter wach gehalten? Heldenpreisung und Ehrennachrufe können ihren Ursprung im schlechten Gewissen des Lobenden haben. Es ist nicht sicher, ob die Ereignisse auf der „Schwalbe“ sich so zugetragen haben wie das Gedicht in einer Rückblende berichtet, denn diese beruht auf Erinnerungen der Beteiligten, die von Subjektivität gefärbt sein können.

Musikalität

Die eben genannten Annäherungen waren erste Fragen, die wir an den Balladentext hatten und als Grundlage für Improvisationen dienten. Die sprachliche Kraft und Intensität der Ballade hat die Fantasie des Teams angezündet und inspiriert. „Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei.“ Wie wird daraus eine Bühnenszene? Versschema und Sekundärliteratur haben uns nicht interessiert. Goethe lieferte das Stichwort, indem er den Vortragenden als „Sänger“ bezeichnete. Daran haben wir uns angelehnt und musikalische Ausdrucksmittel erarbeitet. Die Vorstellung besteht aus Bildern, Situationen, Begegnungen. Keine Dialoge, aber Lieder. Keine Texte, sondern die Umsetzung von Epik und Lyrik in Bewegung, Rhythmus, Wiederholung, Gegensätze. So entstand ein Kaleidoskop von Episoden und Beziehungen, die jeder Zuschauer selbst in seine eigene Erfahrungswelt „übersetzen“ darf. 

 
Orgel, Posaune und Schlagwerk lassen an Maschinenraum und Motoren unter Deck denken. Dort wirken die beiden Musiker, Toni Matheis und Yogo Pausch pfeifend, stampfend, zischelnd, ratternd, hämmernd, stoßend.

Die Welt an Deck ist im Gegensatz dazu als Gegenwelt gezeichnet: Marion Niederländer, Marie Ruback, Giorgio Spiegelfeld und Ullrich Wittemann flanieren, promenieren und tanzen ausgelassen. Dabei kämpfen sie mit allerlei Gegenständen als auch mit ihren individuell-figürlichen Macken. Slapstick, Komik und Tragödie wechseln sich fröhlich ab und es wird deutlich, wie Selbstverliebt sie wirklich sind. „Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei.“ Und der Steward Peter Wolter sorgt für das Wohl seiner Gäste.

Wenn die Gefahr sichtbar wird, verändert sich die Stimmung an Deck. Der Umschwung kommt plötzlich. Gefühlseruptionen lassen die gefügte Welt auseinanderplatzen. Die Menschen geraten außer sich und verhalten sich entsprechend. Jeder ist sich selbst der nächste. Dagegen steht der aufopferungsvolle Steuermann, der seine Standhaftigkeit mit dem Leben bezahlt. Stehvermögen und konsequentes Handeln sind zwar im echten Leben positive Eigenschaften, auf der Bühne weniger interessant. Im Mittelpunkt der Inszenierung stehen die Passagiere und die Veränderungen in ihrem Verhalten, wenn Gefahr droht.

Tanz & Musik

Andreas Denk ist Tänzer und Choreograph. Er arbeitet mit dem holländischen Hans Hof Ensemble, das mit mehreren Produktionen an der SCHAUBURG gastiert hat. Unter anderem mit „Stadt bei Nacht“, “Morgen Gestorben“ „Sofie“ und „Panama“. Mit von der Partie war immer Wiebe Gotink als Komponist.
Andreas Denk hat mit dem SCHAUBURG-Ensemble 2005 die Produktion „BENZIN – Zündstoff aus der Arbeitswelt“ erarbeitet. In seinen Inszenierungen sucht er stets die „Domino-Dramaturgie“: In einem möglichst langen Lauf entwickeln sich Kettenreaktionen von Ereignissen, Zufällen und Unglücken, die durch scheinbare Sprunghaftigkeit und Zufälligkeit voller Assoziationsmöglichkeiten und zugleich Humor ist. 
Ihm zur Seite steht der Musiker und Komponist Wiebe Gotink. Einerseits mit tiefer Intuition für die Fantasie von Andreas Denk assoziiert, sampelt und montiert er bestehende Musiken, deren Spektrum von Edith Piaf und Django Reinhhardt bis zum „Girl von Ipanema“ reicht.

Wo es ihm richtig erscheint, komponiert er Eigenes nach Textausschnitten von Fontane oder eigenen Texten, die live gesungen und gespielt werden. Dabei greift er auf jede musikalische Form zurück, die dabei hilft, Erzählsprünge, Gedankenketten, Ideenfolgen zu erzielen und lässt sich inspirieren vom deutschen Volkslied ebenso wie von Hans Eissler. Zusammen mit dem Fantasiereichtum, der Erfindungsgabe und Originalität des Ensembles entsteht auf diese Weise ein Kaleidoskop von Bildern und Situationen, hervorgerufen durch die Ballade von Theodor Fontane.

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