Haupt-Reiter
Gerettet
Deutsch von Klaus Reichert
Regie
Alexander May
Bühne
Isabelle Kittnar
Kostüme
Monika Staykova
Es spielen
Vanessa Jeker, Marion Niederländer, Marie Ruback, Butz Buse, Markus Campana, Johannes Klama, Anton Schneider, Ullrich Wittemann
Dauer
90 MinutenAlter
Ab 15 JahrenPremiere
11. Juni 2009Jeder Mensch hat das legitime Bedürfnis, von der Welt gesehen, verstanden, ernst genommen zu werden. Was, wenn das nicht erfüllt ist? "Gerettet" geht dieser Frage nach und entdeckt trotz aller inneren Leere Optimismus.
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Wachsamkeit für das Unheimliche
Unerklärbare Mordtaten Jugendlicher erschüttern jedes Mal unser Weltbild. Reflexartig suchen wir nach Gründen, als ob die erklärbare Gewalttat weniger schwerwiegend sei als die unerklärbare. Wir wissen: Nur wenn wir die Ursachen eines Verbrechens kennen, können wir es bekämpfen. Deshalb ist der grundlose Mord nicht hinnehmbar, denn er bedroht die Stabilität unseres Zusammenlebens.
Fachleute, die sich intensiv mit jugendlichen Gewalttätern beschäftigen, berichten davon, dass die Täter häufig von rauschhaften Erlebnissen auf dem Höhepunkt der Gewalt berichten. Der Täter gerät in einen Ausnahmezustand. Gewalt wird zum Selbstzweck. Eine Erklärung gibt es nicht. Und doch sind wir getrieben, diese zu finden.
Schon in der Bibel und in mythischen Erzählungen ist nachzulesen, dass das Böse zum Menschen gehöre. Man denke an Hektor und Achill oder Kain und Abel. Die Tatsache, dass Gott Abels Opfer wohlgefällig annimmt, das Opfer Kains jedoch nicht, kann keine Rechtfertigung für den Brudermord sein. Der Religionsphilosoph Martin Buber bemerkt dazu: „Man muss bedenken, dass es der erste Mord ist: Kain weiß noch nicht, dass es das gibt, er weiß nicht, dass man morden kann. Nicht ein Motiv entscheidet, sondern ein Anlass.“
Weil die Unerklärbarkeit so beunruhigend ist, erzählen uns von Anbeginn biblische Texte und Werke der Literatur von Gewalt ohne Motiv. Sie sind eine Annäherung an die drängende Frage: Wie kann es gelingen, die Gewalt zu zähmen? Eine erlösende Antwort wird es nicht geben. Und dennoch müssen wir sie immer wieder stellen, denn nur so können wir unsere Wachsamkeit für das Unheimliche schärfen.
Sieger und Opfer
Jeder Mensch hat das legitime Bedürfnis, von der Welt gesehen, verstanden, ernst genommen zu werden. Auf diese Zuwendung sind alle Menschen lebenswichtig angewiesen. Um ihrer teilhaftig zu werden gibt es verschiedene Wege. Einer hat sicher mit Arbeit zu tun. Wer Qualifikation und Arbeit hat, erlebt Wertschätzung, kann eine positive Einstellung zum Leben entwickeln und Stolz verspüren. Er erkennt, dass er eine soziale Rolle spielt und entwickelt Selbstachtung.
Wer hingegen dauerhaft ein Gefühl der Unsicherheit und des Ausschlusses aus der Gesellschaft erleidet, der verliert die Bezugspunkte zwischen sich und den anderen. Handlungsunfähigkeit, ein lähmendes Gefühl von Vernichtung der Existenz kann die Folge sein.
Noch schwerer hat es die nachfolgende Generation. Mit welchen Kategorien wachsen Kinder in einem Umfeld heran, in dem ihnen von Beginn an Eltern keine Orientierung bieten können? Welche Reaktionsmechanismen entwickeln sie mit der Erkenntnis außerhalb der Gesellschaft zu stehen, keinen Zugang zu deren Werten zu haben? Eventuell übernehmen auch sie das elterliche Gefühl von Lethargie, Passivität und Versorgungsmentalität.
Häufiger allerdings wehren sie sich dagegen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit weiterhin still zu ertragen. Eine eigene Kultur entsteht. Sie definiert sich über das Gegensatzpaar „Sieger“ und „Opfer“, wobei es natürlich darum geht, auf alle Fälle zu den Siegern zu gehören.
So entsteht eine unverhältnismäßige Überempfindlichkeit und die Bereitschaft, auf tatsächliche oder als solche wahrgenommene Missachtung mit sprunghafter Gewalt zu reagieren. Es sind hilf- und erfolglose Versuche, sich ein Gefühl der Anerkennung zu verschaffen, sich der eigenen Existenz zu vergewissern.
Gerettet
Diesen Titel („Saved“) gab Edward Bond seinem 1965 uraufgeführten Stück. Man kann einen positiven Ausgang erwarten. Da von Rettung die Rede ist, scheint die Geschichte offensichtlich letzten Endes gut auszugehen. Diese Hoffnung erfüllt der Autor. Aber auf eine differenzierte Art, wie Literatur es tun kann. Eine einfache Antwort verweigert er.
Die enttäuschte Erwartungshaltung war sicher ein Grund, warum die Uraufführung am Royal Court Theatre in London einen Skandal auslöste und von der englischen Theaterzensur verboten wurde. Anstoß hatte vor allem die Szene erregt, in der eine Clique Jugendlicher ein Baby steinigt. Auch bei der deutschen Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen 1967 kam es zu Protesten und Tumulten im Zuschauerraum. Das Stück erregte damals die Gemüter, weil der Autor Stumpfsinn, Aggressivität und Frust unter Jugendlichen zwar aufzeigt, aber gleichzeitig die Frage nach möglichen Ursachen oder Lösungen unbeantwortet lässt. Die Tat geschieht völlig aus dem Nichts, unerklärlich, ohne erkennbares Motiv. Wie bei Kain und Abel. Oder in „Der Fremde“ von Camus.
Die Handlung des Stücks entwickelt sich aus einer Dreiecksbeziehung. Pam nimmt Len mit in die Wohnung, in der auch ihre Eltern leben. Len verliebt sich in Pam. Doch diese wendet sich Fred zu. Fred lässt Pam nach kurzem Abenteuer fallen. Pam bleibt mit einem Kind zurück. Len übernimmt die Rolle des Ziehvaters. Er liebt Pam.
Inzwischen ist Len als Untermieter ins Haus von Pam und deren Eltern eingezogen. Dies ist aber kein schützendes Heim, sondern die Alltagshölle einer desolaten Familie. Der Vater ist personifizierte Lebensenttäuschung und Traurigkeit. Die Mutter übertüncht ihre Leere mit sinnloser Umtriebigkeit. Weder Mutter noch Tochter fühlen sich ernsthaft für das Kind verantwortlich. Pam hängt an Fred, der sie hängen lässt. Aber Len liebt Pam. Nach einem Streit stellt sie den Kinderwagen mit Baby im Park ab. Fred und seine Kumpels treiben Spielchen mit Kind und Wagen, schließlich quälen sie das Baby und steinigen es. Len beobachtet das Geschehen und wagt nicht einzugreifen. Fred kommt ins Gefängnis. Mehr Veränderung ist nicht. Das Leben geht weiter. Wer wird gerettet?
Leerstelle Leben
Noch einmal: Jeder Mensch hat das legitime Bedürfnis, von der Welt gesehen, verstanden, ernst genommen zu werden. Das sind auch die Bedürfnisse der im Stück beschriebenen Jugendlichen. Doch ihr Leben ist anders. Das Ausmaß ihrer Einsamkeit und Verlassenheit ist riesig. Jede Form von Moral oder eines Reglements für menschliches Miteinander ist verloren. Keiner der jungen Täter hat einen eigenen Ort, eine Heimat, ein Elternhaus. Das Haus als Schutzort gegen die Unbilden der Welt draußen, als Bleibe, Ruheraum und als Halt, wodurch Ordnung im Leben möglich wird: All das fehlt ihnen. Sie können keine Position im Leben finden, gegenüber anderen und der Welt. Immer sind sie in Bewegung, getrieben von einem ortlosen unbehausten Unterwegs-Sein und kommen nirgends an. Das Leben wird als Leerstelle wahrgenommen.
Dennoch behauptet Edward Bond, dass das Stück „fast unverantwortlich optimistisch“ sei und begründet es folgendermaßen: „Len, die Hauptfigur, ist von Natur aus gut, trotz seiner Erziehung und Umgebung, und er bleibt auch gut, trotz allem Druck, dem er in dem Stück ausgesetzt ist. Doch ist er nicht ganz und gar gut oder ohne Anstrengung gut, denn dann wäre sein Gutsein bedeutungslos, wenigstens für ihn selber. Deutlich gemacht werden ihm seine Fehler teilweise durch die zwiespältige Einstellung dem Tod des Babys gegenüber und später durch die morbide Faszination, die dieser Tod auf ihn ausübt. (...)“ Am Ende des Stücks, wenn alles in Scherben liegt, dann hat er die Kraft zu einem Neuanfang. Sehr klein. Sehr vorsichtig. Ein wenig optimistisch.
Dialog am Seziertisch
Nur auf den ersten Blick scheint GERETTET ein naturalistisches Milieu-Stück zu sein. Bei genauerem Hinsehen liest man eine streng komponierte Sprache, hört man die Stilisierung zu einer musikalischen Form.
Die Dialoge im Stück sind lapidar. Kurze Sätze, häufig mehr Selbstgespräch als Dialog. Coole Bemerkungen voller Ironie, Spott und Verachtung. Echtes emotionales Verstehen und Ernstnehmen der eigenen Lebenssituation fehlen. Die Figuren verstehen weder sich noch ihre Situation. Mit einer Ausnahme: Len. Er ist anders.
Mehr als vierzig Jahre nach der Uraufführung untersucht der Regisseur Alexander May das Stück für heute. Die Szenen finden in der Mitte des Theaters satt. Wie auf einem Seziertisch. Wie unter einem Vergrößerungsglas. Und wenn man noch immer nicht genug erkennen kann, dann werden unter dem Mikroskop vergrößerte Bilder auf die Wände projiziert.
Die Schauspieler sind Untersuchende und bleiben immer Schauspieler. Sie sind Anwälte ihrer Figuren und erzeugen nie die Illusion, wirklich diese Figuren zu sein. Deshalb können sie aus dem Geschehen aussteigen, mit der Distanz eines Nicht-Betroffenen Fragen stellen, mit den Figuren in Dialog treten.
Die Zuschauer nehmen rund um den Seziertisch auf vier Seiten Platz, um an diesem Untersuchungs-Prozess teilzuhaben. Sie sehen das Stück GERETTET und gleichzeitig quasi ein „Making Of“.
Sie bekommen Einblicke in die unbeantwortbaren Fragen, die während der Probenarbeit auftauchten: „Warum richten sich die Menschen in den Missständen ein?“ „Warum hat Pam keinen Stolz, und rennt einem Typen hinterher, der sie demütigt?“ „Wer hat Schuldgefühle?“Warum...? Warum...? Warum...? Diese Form verhindert eine Konsumentenhaltung des Publikums. Es wird ermutigt, ebenfalls Fragen zu stellen. An das Stück. Und an sich selbst. Wie gesagt: Eine Antwort wird es nicht geben. Wir können nur unsere Wachsamkeit für das Unheimliche schärfen.
Edward Bond
Edward Bond wurde als Arbeiterkind 1934 in einem Londoner Vorort geboren. Während des Krieges wurde er mit seiner Familie evakuiert, kehrte aber später noch London zurück. Bereits mit Sechzehn ging er von der Schule ab und schlug sich mit Aushilfsjob durch. Sehr früh begann er Gedichte und Theaterstücke zu schreiben. Schon in seinem frühen Stück GERETTET, das einen Skandal auslöste und von der Zensur verboten wurde, formulierte er den Grundtenor seines Schaffens: Die radikale Darstellung der durch die Gesellschaft erzeugte Gewalt. Weitere Stücke: „Trauer zu früh“, „Schmaler Weg in den Norden“, „Lear“, „Die See“, „Sommer“.
Alexander May
Alexander May wurde 1970 in Trier geboren. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Steinbildhauer und Steinmetz und arbeitete auch einige Jahre in diesem Beruf. Er gründete eine freie Gruppe in Berlin („Fragment“) und war Assistent bei Claus Peymann, Thomas Langhoff und Christoph Schlingensief. Zwischen 2001 und 2005 war er als Regieassistent - häufig bei Barbara Frey - am Bayerischen Staatsschauspiel München engagiert. Am Marstall inszenierte er „Genua 01“ von Fausto Paravidino. Seit 2005 arbeitet er als freier Regisseur u. a. in Augsburg und Nürnberg. GERETTET ist seine erste Arbeit an der SCHAUBURG. In der kommenden Saison wird er hier „Die Räuber“ von Schiller untersuchen.