Haupt-Reiter
Seiten, die auf Der weiße Dampfer verweisen
Fassung: Beat Fäh
Regie
Beat Fäh
Bühne und Kostüme
Mandy Hanke
Sound
Carl Ludwig Hübsch
Es spielen
Ruth Oswalt, Marie Ruback, Markus Campana, Gerd Imbsweiler, Johannes Klama, Peter Wolter
Dauer
90 MinutenAlter
Ab 9 JahrenPremiere
09. Januar 2010Er ist sieben Jahre alt und lebt bei seinem Großvater in der Försterei hoch in den Bergen über dem See Issyk-Kul in Kirgisien. Von seiner Mutter weiß er kaum etwas: Sie hat ihn dort oben gelassen, als sie in die große Stadt gezogen ist. Aber wo sein Vater ist, das weiß er genau. Auf dem weißen Dampfer, den er im Fernrohr erkennen kann. Dort arbeitet er als Matrose.
Nächste Termine
Eine Geschichte aus Kirgisien
Tschingis Aitmatow (1928 – 2008) ist einer breiten Leserschaft vor allem durch seine Erzählung „Dshamilja“ bekannt, von der Louis Aragon behauptete, es handele sich um die schönste Liebesgeschichte der Welt. In Anlehnung an diese viel zitierte Begeisterung möchten wir formulieren, dass „Der weiße Dampfer“ die eindrucksvollste Geschichte über Empfindungen der Kinderjahre in einer heillos entzauberten Welt ist.
Die Novelle (erschienen 1970) spielt in einer einsamen Försterei inmitten des Tianschan-Gebirges (auf Deutsch: „Himmlische Berge“) in Kirgisistan. Die kleine Siedlung ist vom See Issyk-Kul durch Schluchten und am Flussufer entlang über Schlaglöcher und Steine nur mühsam zu erreichen.
Zu Recht stellt sich die Frage, wer außer wenigen Liebhabern an einer Geschichte interessiert sein könnte, die in einer so fremden Kultur angesiedelt ist? Die Antwort ist ganz einfach. Die grundlegenden menschlichen Probleme gleichen sich überall auf der Welt.
Und Tschingis Aitmatow berührt mit seiner erzählerischen Intensität über alle kulturellen und geographischen Grenzen hinweg diese allgemein gültigen Fragen. Seine Figuren sind einerseits untrennbar mit ihrer uns so fremden Kultur verwurzelt; und andererseits erkennen wir in ihnen unser eigenes Glück, unsere Nöte und Sorgen. Sie sind Mittler zwischen den Kulturen, schlagen Brücken zwischen einst und jetzt, agrarisch-archaischen Lebensformen und den Verheißungen der modernen Welt.
Mit großer Anteilnahme und Einfühlung macht Aitmatow einen Jungen zum Zentrum der Erzählung, der sich gegen die Folgen von Hartherzigkeit und Schuld kompromisslos wehrt und seinen eigenen Weg sucht. Und weil dieser Junge nicht ein individuelles Schicksal hat, sondern es mit vielen Jungen dieser Welt teilt, hat er keinen Namen. Er ist einfach der Junge. Und er ist sieben Jahre alt. Mit seinen Augen erleben wir das dramatische Geschehen.
Die Beteiligten
Oroskul ist der Leiter der Försterei und der Onkel des Jungen. Er ist ein tyrannischer, mit seinem Leben unzufriedener Mann, der alle schikaniert. Er wird gequält von Selbstmitleid und Verbitterung, weil er keine Kinder hat. Deshalb trinkt er zu viel und schlägt seine Frau, der er die Schuld an diesem Schicksal gibt. Oroskul macht krumme Geschäfte: Fleisch und Wodka gegen Holz, obwohl es streng verboten ist, im Naturschutzgebiet Bäume zu fällen. Die lebensgefährliche Arbeit kann nur zu Zweit gemacht werden. Oroskul ist auf die Mithilfe von Großvater Momun angewiesen. Diese Abhängigkeit von dem verfluchten alten Vater seiner unfruchtbaren Frau treibt ihn so sehr zur Weißglut, dass das Unglück seinen Lauf nimmt.
Tante Bekej ist eine geschlagene Frau. Sowohl wörtlich wie auch im übertragenen Sinn. Sie ist die Frau von Oroskul. Der Junge kennt sie fast nur missmutig und gereizt. Für ihn, den Sohn ihrer Schwester, hat sie selten ein gutes Wort, zu sehr schmerzt sie die eigene Kinderlosigkeit.
Die Großmutter ist die zweite Frau von Großvater Momun. Sie ist vor allem aus Versorgungsgründen in dieser Familie untergeschlüpft. Sie sagt, es sei ganz schlecht, wenn man keine eigenen Kinder habe, und noch schlimmer sei, wenn die Kinder keine Kinder haben. Dennoch mag sie den Jungen nicht.
Sejdachmat ist Waldarbeiter in der Försterei, ein gutmütiger aber fauler Kerl, der sich aus allen Konflikten raus hält. Über den Großvater macht er, wie alle anderen gerne Witze. Schon deshalb ist er kein Held für den Jungen.
Sein Held ist Kulubek, der Lastwagenfahrer. Er wohnt nicht auf dem Gehöft, sondern kommt, um Heu aus den Bergen zu holen. Wegen eines Wettersturzes muss er in der Försterei Schutz suchen. Kulubek erzählt von der gefährlichen Arbeit, was den Jungen sehr beeindruckt. Schwerer wiegt, dass Kulubek den Jungen wahrnimmt. Er sieht ihn, er redet mit ihm, er macht ihm ein Geschenk, er nimmt ihn ernst. Wenn er so einen Bruder hätte, dann brauchte er vor nichts Angst zu haben. Aber im entscheidenden Moment wartet der Junge nicht, bis Kulubek kommt.
Großvater Momun hat zwei Töchter: Tante Bekej und die Mutter des Jungen. Um diesen kümmert er sich rührend. Er ist ein unendlich freundlicher alter Mann, der sein ganzes Leben von früh bis spät gerackert hat. Dennoch genießt er keinen Respekt. Gerade wegen seiner Offenheit und seines Fleißes wird er als Sonderling abgestempelt. Trotz Kritik und Spott tut er alles für seinen Enkel. Er erklärt ihm die von Märchen und Mythen durchwobene Welt von Familie und Kindheit, Natur und Tieren, harter Arbeit und den traditionellen Festen. Er schenkt ihm ein Fernrohr und kauft ihm eine Schultasche. Und da die Schule so weit entfernt liegt, bringt er ihn jeden Tag auf dem Pferd dorthin und holt ihn wieder ab. Diese Verpflichtung gegenüber dem Jungen ist Auslöser für den vernichtenden Streit mit Oroskul, in dem Großvater Momun alles verliert.
Der Junge wurde von seiner Mutter in der Försterei abgegeben, als sie in die Stadt zog. Mehr weiß der Junge nicht über sie. Man kann nicht sagen, dass er ein leichtes Leben hat in dieser Einsiedelei ohne Spielkameraden. Aber er hat zwei Märchen, die ihm dabei helfen, das Leben zu bewältigen. Das eine handelt davon, dass er sich in einen Fisch verwandelt, mit Flossen, Schuppen, Kiemen, Schwanz. Nur sein Kopf würde sich nicht verändern. So kann er schwimmen, durch die reißende Strömung flussabwärts, durch Stromschnellen und Strudel bis zum Issyk-Kul. Dort schwimmt er zum weißen Dampfer, wo sein Vater als Matrose arbeitet. Und dann sagt er zum Vater: „Guten Tag, Papa. Ich bin dein Sohn. Ich bin zu dir geschwommen.“
Die Gehörnte Hirschmutter ist die Hauptfigur im zweiten Märchen des Jungen. Es handelt von längst vergangenen Zeiten, als die kirgisischen Völker sich bis zur Vernichtung bekämpften. Bei einer dieser Schlachten überlebten nur ein Junge und ein Mädchen, die plötzlich ganz allein auf der Welt waren. Da nahm sich die Gehörnte Hirschmutter ihrer an, gab ihnen eine neue Heimat am Issyk-Kul und wurde selbst zum heiligen Tier. So war es lange Zeit. Doch die Ehrfurcht hielt nicht an. Die Tiere wurden wieder gejagt und ihre Geweihe als Trophäen gesammelt. Die Gehörnte Hirschmutter verschwand. Und somit auch das Glück. Das ist das Märchen.
Plötzlich tauchen wirkliche Tiere in der Nähe der Försterei auf. Der Junge ist im Glück. Das nicht sehr lange dauert. Denn Oroskul, seine „Geschäftspartner“ und Sejdachmat haben keinen Respekt vor der Tradition. Der Großvater ist zu schwach. Kulubek ist nicht in der Nähe.
Die Welt der Märchen und Mythen
Tschingis Aitmatow ist geprägt von der Welt der Märchen und Mythen, Legenden und Beschwörungen, mit denen ihn seine Großmutter vertraut machte. Märchen spielen eine wichtige Rolle, weil in ihnen kollektive Lebenserfahrung weitergegeben wird. Dadurch regen sie die Fantasie an und tragen dazu bei, Verstandeskräfte zu entwickeln. Sie greifen eigene Schwierigkeiten auf und bereichern unser Leben, weil in ihnen universelle menschliche Probleme behandelt werden. Aitmatow selbst schrieb einmal:
“In all den Jahren habe ich mir meine Gedanken darüber gemacht, wie wesentlich Kultur, Kunst und Tradition für das Leben, ja Überleben der Menschen sind, wenn sie humanistischen Idealen dienen. Ob diese Ideale je erreichbar sein werden oder nur ein stets erstrebenswertes Ziel bleiben, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch sollte man sich unaufhörlich für die Verwirklichung der Ideale einsetzen. Sie sollten die Impulse für unser Sinnen und Trachten sein, ob im Alltag, oder als Teil unserer Philosophie und Religion.“
Für Kinder ist es eine tiefe Aufgabe, sich selbst in unserer modernen, extrem differenzierten und dadurch komplizierten Welt zu verstehen. Dafür brauchen sie Hilfe. Dabei können Große Geschichten, die von den Wechselfällen des Lebens erzählen, diese Hilfe sein. Sie können Gefühle, Fantasie und Verstand stimulieren und dazu beitragen, Ängste und Sehnsüchte zu bewältigen.
„Der weiße Dampfer“ ist zwar im klassischen Sinne kein Märchen, aber eine Große Geschichte ist es in jedem Fall. Sie kann Hilfe, Anregung und Trost sein, sie kann Mut machen, denn sie spricht existentielle Ängste ernst und unmittelbar aus: Das Bedürfnis, geliebt zu werden, und die Furcht, nutzlos zu sein, die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tod.
Selbstverständliche Leichtigkeit
Beat Fäh ist inzwischen Spezialist für das Transponieren von Prosa-Texten auf die Bühne. An der SCHAUBURG hat er „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm und „Von Mäusen und Menschen“ von John Steinbeck inszeniert. Seine Bühnenfassung von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ ist vielen Zuschauern noch heute als Meisterstück in Erinnerung.
Wenn Beat Fäh erzählen lässt, dann wünscht er sich Schauspieler, die im Dialog zwischen persönlichem Zugang und „Werktreue“ auf der Bühne stehen. Er möchte Teamspieler, und zu diesem Team gehören nicht nur die Kollegen, sondern auch der Autor. Er sucht Wahrhaftigkeit, das Unverkrampfte, die Uneitelkeit, den offenen Ton. Es ist intensive Arbeit, ehe man eine selbstverständliche Leichtigkeit erreicht, die sich auf den Zuschauer überträgt und ihn für die Geschichte öffnet.
Die Schauspieler erleben unter seiner Anleitung während der Proben, dass es nicht reicht, Verabredungen zu schaffen und diese einzuüben. Alle zusammen müssen das persönliche und das gemeinsame Timing suchen und in jeder Vorstellung neu finden. Dabei vermeidet er das Illustrieren des Textes.
Der Junge in „Der weisse Dampfer“ sagt an einer Stelle: „Ich erzähle gern und sehe dabei alles wie im Kino.“ Das ist es, was Beat Fäh anstrebt: Die Aktionen der Schauspieler sollen persönlich, tiefgründig, manchmal rätselhaft oder komödiantisch sein, und der Zuschauer sieht alles „wie im Kino.“ Das bedeutet, die Bilder entstehen durch die eigene Vorstellungskraft im Kopf jeden Zuschauers, ohne Kinosaal.