Haupt-Reiter
Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen...
Nach dem Roman von Luis Sepúlveda
Regie
George Podt
Bühne und Kostüme
Peer Boysen
Musik
Toni Matheis
Es spielen
Matthias Friedrich, Florian Stadler, Klaus Haderer, Lisa Huber, Peter Wolter, Meisi von der Sonnau, Dirk Laasch, Sabine Zeininger, Panos Papageorgiou
Wir danken der "Augustiner-Bräu München" für die Überlassung der Bestuhlung
Dauer
75 MinutenAlter
Ab 9 JahrenPremiere
17. April 1999Nächste Termine
Die Geschichte
„Versprich mir, nicht das Ei aufzuessen“, bittet die Möwe Kater Zorbas.
„Ich verspreche dir, nicht das Ei aufzufressen.
Versprich mir, es zu hüten, bis das Küken ausschlüpft.
Und versprich mir, ihm das Fliegen beizubringen.
Ich verspreche dir, ihm das Fliegen beizubringen.“
Völlig verdreckt und total erschöpft landet sie Möwe auf einem Hamburger Balkon. Dort wohnt Zorbas, ein kohlrabenschwarzer Kater. Und schwarze Kater bringen Unglück, sagt man.
Und der Möwe ist wirklich ein Unglück widerfahren. Aber das hat mehr mit dem Raubbau zu tun, den der Mensch an der Natur betreibt als mit schwarzen Katzen.
Auf jeden Fall stinkt die Möwe entsetzlich, weil sie beim Fischfang in eine Ölwelle geraten ist. Mit letzter Kraft ringt sie Zorbas drei Versprechen ab.
Vorschnell gibt dieser Sein Wort und denkt nicht darüber nach, ob er es halten kann. Er ist mehr daran interessiert, das stinkende Tier auf seinem Balkon wieder loszuwerden. Dafür braucht er die Hilfe seiner Freunde: Colonello ist aufgrund seines Alters und seines Talents, immer gute Ratschläge zu geben, die Autorität unter den Hafenkatzen. Ihm zur Seite steht Sekretaria. Sie ist viel gescheiter als ihr Chef, aber als schlaue Katzenfrau lässt sie ihn das nicht merken. Und der Dritte im Bunde ist Schlaumeier, ein kleiner magerer Kater. Er ist die meiste Zeit völlig in seine Bücher vertieft und liebt es, die anderen an seinem Lese-Vergnügen teilhaben zu lassen.
Alle drei wohnen in Harrys Hafenbasar, einem Laden, der vollgestopft ist mit den merkwürdigsten Gegenständen und von einem immer betrunkenen und daher zu Grobheiten neigenden Schimpansen namens Matias bewacht wird. Hier erhofft sich Zorbas Hilfe.
Aber es ist gar nicht leicht, den Basar überhaupt zu erreichen, erst versperren ihm zwei streunende Kater den Weg, um sich auf seine Kosten zu amüsieren, dann will ihm der betrunkene Affe den Zutritt zu Basar verwehren. Als er sich endlich bis zu seinen Freunden durchgekämpft hat, interessieren die sich überhaupt nicht für sein Möwen-Problem. Lange dauert es, bis Schlaumeier in seinem Lexikon Rat findet. Wertvolle Zeit verstreicht und die Möwe ist tot, als alle zum Balkon zurückkehren.
Aber ihr Ei hat sie zuvor gelegt. Colonello fordert, dass Zorbas seine leichtfertig gegeben Versprechen einlösen müsse. Das sei Ehrensache unter Hafenkatzen.
Keine leichte Aufgabe für einen Stubentiger, der gewohnt ist, nach Lust und Laune eine herrliche Dose Katzenfutter öffnen zu können. Und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die beiden streunenden Kater beobachten ihn beim Fliegenfangen und lachen sich schlapp über ihn. Und dass die Möwe ihn „Mama“ nennt, findet er selber auch ziemlich peinlich.
Weit schwieriger als die Futterbeschaffung ist es, den Schutz der kleinen Möwe sicherzustellen. Gefahren lauern überall. In einem unbeobachteten Moment versuchen die beiden Streuner, den jungen Vogel zu fressen; Ratten haben Möwenkinder auch gerne auf dem Speiseplan. Und der üble Affe schafft es mit gehässigen Bemerkungen, die Kleine zum Weinen zu bringen. Jetzt gilt nur noch: Das letzte Versprechen muß eingelöst werden. Sie muß fliegen! Schlaumeier hält seine Stunde für gekommen. Die ganze Theorie des Fliegens enthält sein Lexikon. Aber Theorie und Praxis sind zwei Paar Stiefel. Die Gesetze der Aerodynamik helfen genauso wenig wie die Flug-Studien des Leonardo da Vinci. Die Möwe strampelt bis zum Umfallen und hebt doch keinen Zentimeter vom Boden ab.
Nun kann nur noch einer helfen: Der Dichter, der sich diese verzwickte Geschichte ausgedacht hat. ...
Tiergeschichten und Menschen
“Immer wenn man ein Tier genau beobachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch, der darin sitzt, macht sich über einen lustig“ (Elias Canetti).
Katzen, Möwen, Ratten und sogar ein Schimpanse sind an dieser Vorstellung beteiligt, dagegen nur ein einziger Mensch, der Dichter. Dennoch lebt man auf der Bühne keine Schauspieler in Fell- oder Federkleid, die auf allen vieren kätzisch und rättisch reden. Gezeigt werden vielmehr Menschen mit Eigenschaften und Konflikten, die wir kennen und die uns interessieren, weil es menschliche sind.
Die Verwendung von Tiersymbolen ist in der Literatur von Goethes „Reinecke Fuchs“ über die Fabeln von La Fontaine bis zum Wolf bei den Brüdern grimm bekannt. Jedermann ist klar, dass es sich dabei nie um literarische Tierkunde oder moderne Tierpsychologie handelt. Die Geschichten sind vielmehr als Gleichnisse zu interpretieren, die entschlüsselbar werden, weil die einzelnen Tiere als Sinnbild für einen bestimmten Charakter stehen. So gilt der Fuchs als schlau, die Gans als dumm, der Hund als treu, der Esel als begriffsstutzig.
Beim Lesen versteht jeder diese Zeichenhaftigkeit ganz selbstverständlich, zumal sie einer verbreiteten Haltung Tieren gegenüber entgegen kommt.
Wie häufig sind im Tierpark Besucher zu beobachten, die dem Elefanten oder Chamäleon menschliche Charakterzüge zuschreiben. Darin besteht für viele Menschen die Attraktivität des Zoos (neben der Faszination des Anderen, der Eindruck gebändigter Kraft). Man beobachtet die Affen und erkennt, wenn schon nicht sich selber, so doch seinen Nachbarn. Tierkostüme auf der Bühne werfen andere Probleme auf. Es sind immer Menschen, die in Tierkostümen stecken. Ein Gleichnis bleibt nicht zu entdecken. Jeder sieht, was es ist: Ein Schauspieler im Plüschkostüm, Puschelohren und angeklebten Schnurrhaaren als Stellvertreter einer Katze.
Eine so einfache Bebilderung der Figuren ist uninteressant, weil sie die Verschlüsselung im Spielvorgang wieder aufhebt. Man kann das umgehen, indem man den Vorgang wieder umkehrt: Man zeigt einen Schauspieler, der einen normalen Anzug trägt. Aber an der Materialität des Stoffes und an der Art, wie ihn der Schauspieler bespielt und sich darin bewegt, können Gedankenverbindungen entstehen, die den Zuschauer an eine Katze denken lassen. Das möchten wir gerne erreichen.
Das Fliegen
Vögel breiten einfach die Flügel aus und fliegen los. Damit sich der Mensch vom Boden erheben kann, muss er Himmel und Erde in Bewegung setzen.
Und er tut das auch.
Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschheit. Flugvorstellungen und Träume vom Fliegen gehören zum Grundbestand des menschlichen Gefühlshaushalts. Der Gedanke weckt Ängste genauso wie Bilder von Freiheit im weitesten Sinne. Die große Faszination des technischen Wagnisses, metaphysische Grenzerfahrzungen und erotische Befreiung sind ebenso Aspekte, die man mit „Fliegen“ verbindet, wie Machtphantasien und das Streben nach Selbstverwirklichung.
Nachdenken über die Möglichkeiten des Fliegens gibt es schon sehr lange. Leonardo da Vinci systematisierte die Beobachtungen zum Vogelflug und bereitete ein ganzes Tableau von theoretischen Flugmöglichkeiten aus, das vom Gleitflug über den Hubschrauber bis zum Fallschirm reichte. „Über den Vogelflug“ überschrieb er sein zentrales Werk zum Thema „Fliegen“, doch handelt dieses von einer soliden Tragflächenkonstruktion als künstlichem Fluggerät. (Deshalb kann Schlaumeier aus seinen Aufzeichnungen keine Flug-Anleitungen für die Möwe herleiten.) Seine späteren Anweisungen für die Durchführung von Gleitflugversuchen gehen bis ins Detail, die dem heutigen Paragliding nahe kommen.
Als Archetypen europäischer „Flieger“ gelten bis heute Daedalus und Ikarus. Daedalus entfloh mit seinem Sohn aus der Gefangenschaft des Königs Minos auf Kreta mit Hilfe von Flügeln, die aus Federn mit Wachs zusammengeklebt hatte. Ikarus, getrieben von höchst gefährlichem Übermut, flog zu hoch, sodass die Sonne das Wachs der Flügel schmolz und er ins Meer stürzte.
Engel stehen als Symbol fürs Fliegen. Sie verkörpern die Vorstellung einer vom Körper unabhängigen und dennoch personalen Identität des Seelisch-Geistigen. In der Existenz von Engeln feiert der Mensch seine eigene uralte Sehnsucht: fliegen zu können und damit gottähnlich zu sein.
Im Flugträumen wird der Wunsch thematisiert, sich von der Erde, von irdischen Bindungen zu lösen, frei und unabhängig zu sein. Die Sehnsucht, aus eigener Kraft in allen Elementen zu hause zu sein, beinhaltet auch die Angst vor dem Absturz. Denn wer zu hoch hinaus will, der scheitert. Und gleichzeitig gilt auch die Erkenntnis, die Kater Zorbas am Ende des Stücks gewinnt. „Nur der fliegt, der sich zu fliegen traut.“
Trotz aller Träume weiß der Mensch, dass er erdgebunden bleibt. Sein Platz ist in Bodennähe. Da geht es den Katzen wie den Menschen. Was er allerdings kann, ist sich mit den Flügeln des Geistes frei von einem ungenügenden Körper in den Himmel zu heben.
Deshalb weiß am Ende des Stücks der Dichter rat.
In seinem Buch „Mister Vertigo“ hat Paul Auster sehr anschaulich beschrieben, wie der Mensch sich das Fliegen vorstellt „Ich fühlte, wie sich eine Gelassenheit in mir ausbreitete, die mir nach und nach durch die Muskeln bis in die Fingerspitzen und Zehen strömte. In meinem Kopf waren keine Gedanken mehr, in meinem Herzen keine Gefühle. Ich war schwerelos in meinem Körper, trieb auf einem friedlichen See des Nichtseins, vollkommen losgelöst, vollkommen gleichgültig gegen die Welt und mich.
Und da hab ich es zum ersten Mal getan – ohne Vorwarnung, ohne die leiseste Ahnung, dass es nun passieren würde. Ganz langsam hob sich mein Körper vom Boden. Die Bewegung war sehr natürlich, sehr zart in seiner Sachtheit, und so merkte ich erst, als ich die Augen aufmachte, dass meine Gliedmaßen nur noch von Luft umgeben waren. Ich hing, reglos treibend, wie der Mond am nächtlichen Himmel und spürte nichts anderes als den bebenden Atem in meinen Lungen. Wie lange ich dort geschwebt habe, kann ich nicht sagen, aber irgendwann bin ich, ebenso langsam und sanft wie zuvor, auf den Boden zurückgesunken.“
Luis Sepúlveda
Luis Sepúlveda, geboren 1949 in Nordchile, ging nach politischem Engagement in der Studenten- und Gewerkschaftsbewegung ins Exil nach Ecuador, gründete Theatergruppen in Peru, Ecuador und Kolumbien, arbeitete als Journalist für die UNESCO. Er lebte einige Jahre in Hamburg. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und erhielt wichtige Auszeichnungen. Auf deutsch erschienen bisher: „Die Welt am Ende der Welt“(1992), „Der Alte, der Liebesromane las“(1996), ; „Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“(1997), „Patagonien Express“ (1998) und „Tagebuch eines sentimentalen Killers“(1999).