Haupt-Reiter
Engel in Fetzen
Regie
Jörg Baesecke und Hedwig Rost
Es spielt
Jörg Baesecke
Gewitzt, pointiert und facettenreich erzählt Jörg Baesecke Geschichten aus der zerstörten Kultur der ostjüdischen Tradition, Geschichten voller Humor und Lebensnähe, Geschichten voller Weisheit und Welthaltigkeit. Baesecke erzählt die Geschichten mit Hilfe von Papier. Er reißt, faltet oder knüllt daraus Formen und Gestalten und lässt Papier-Figuren auftreten. So entsteht eine leichte, spielerische Illustrationsweise, die den Inhalt der Geschichten in Andeutungen begleitet und dem Zuhörer und Betrachter Raum für eigene Bilder lässt.
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Ostjüdische Geschichten
Wer sind wir? Sind wir uns selber fremd? "Erst recht vor andern können wir fast immer nur scheinen (...)", sagt Ernst Bloch. Von diesem Rätsel der menschlichen Identität erzählen viele Geschichten der Chassidim und gewähren dem Zuschauer und Zuhörer Einblick in eine fremde Welt. Sie entstammen einer Weltzugewandten, lebensbejahenden jüdischen Glaubensrichtung, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden ist, und die, wie die gesamte jüdische Kultur Europas, von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde.
Der besondere Humor in Verbindung mit einer von praktischer Erfahrung geprägten Lebensweisheit macht diese Erzählungen zu unvergleichlichen und eigentümlichen Denkmälern der europäischen Literatur. Aber nicht nur als Denkmal einer verlorenen Kultur sind sie uns heute wichtig. Gerade die pointierte Erzählweise und ihr lebenspraktischer Gehalt sprechen uns heute - jenseits ihrer spirituellen Dimension - unmittelbar an. Mit feinem Witz und voll tiefer Menschenkenntnis bieten die Geschichten, quer stehend zu jeglichem Zeitgeist, auf subtile Weise ethische Orientierung. Dabei entwerfen sie jedoch keinen repressiven Moralkodex. Vielmehr formulieren sie präzise Fragen nach der seelischen Verfassung des Einzelnen, Fragen nach seiner Identität, nach dem Unterschied von Sein und Schein. Fragen, die immer über die erzählten Figuren hinausweisen und sich gleichsam spielerisch an jeden einzelnen Zuschauer wenden.
Entstanden im 18. Jahrhundert als "kleine Literatur" einer jüdischen Minderheit in Osteuropa sind die chassidischen Geschichten erst Anfang unseres Jahrhunderts wieder entdeckt worden. Wesentlich dazu beigetragen haben die Aneignungen und Nacherzählungen von Martin Buber, der sich intensiv mit der chassidischen Kultur auseinandergesetzt und sie gleichsam rehabilitiert hat. Dabei stellte sich ihm vor allem das Problem der Übersetzung. Denn die mündlich auf jiddisch erzählten Geschichten wurden zumeist in hebräischer Sprache aufgezeichnet, und Buber entschied sich schließlich, die Geschichten nicht zu übersetzen, sondern sie in seiner Sprache nachzuerzählen. Man könnte also sagen, dass in die schriftliche Überlieferung der Geschichten ihr mündlicher Ursprung eingezeichnet ist. Nichts liegt demzufolge näher, als diese Geschichten wieder in ihr angestammtes Medium zu überführen und sie auch wieder mündlich weiterzuerzählen. Dann erst erfahren wir ihre rhythmische Prägnanz, und die Geschichten entfalten die ganze Kraft pointiert formulierter Erzählkunst.
Ernst Bloch: "Fall ins Jetzt"
“Man hatte gelernt und sich gestritten, war darüber müde geworden. Da unterhielten sich die Juden, im Bethaus der kleinen Stadt, was man sich wünschte, wenn ein Engel käme. Der Rabbi sagte, er wäre schon froh, wenn er seinen Husten los wäre. Und ich wünschte mir, sagte ein Zweiter, ich hätte meine Töchter verheiratet. Und ich wollte, rief ein Dritter, ich hätte überhaupt keine Töchter, sondern einen Sohn, der mein Geschäft übernimmt. Zuletzt wandte sich der Rabbi an einen Bettler, der gestern Abend zugelaufen war und nun zerlumpt und kümmerlich auf der hinteren Bank saß. ‚Was möchtest du dir denn wünschen, Lieber? Gott sei es geklagt, du siehst nicht aus, wie wenn du ohne Wunsch sein könntest.' - ‚Ich wollte', sagte der Bettler, ‚ich wäre ein großer König und hätte ein großes Land. In jeder Stadt hätte ich einen Palast, und in der allerschönsten meine Residenz, aus Onyx, Sandel und Marmor. Da säße ich auf dem Thron, wäre gefürchtet von meinen Feinden, geliebt von meinem Volk, wie der König Salomo. Aber im Krieg habe ich nicht Salomos Glück; der Feind bricht ein, meine Heere werden geschlagen und alle Städte und Wälder gehen in Brand auf. Der Feind steht schon vor meiner Residenz, ich höre das Getümmel auf den Straßen und sitze im Thronsaal ganz allein, mit Krone, Szepter, Purpur und Hermelin, verlassen von allen meinen Würdenträgern und höre, wie das Volk nach meinem Blut schreit. Da ziehe ich mich aus bis aufs Hemd und werfe alle Pracht von mir, springe durchs Fenster hinab in den Hof. Komme hindurch durch die Stadt, das Getümmel, das freie Feld und laufe, laufe durch mein verbranntes Land, um mein Leben. Zehn Tage lang bis zur Grenze, wo mich niemand mehr kennt, und komme hinüber, zu andern Menschen, die nichts von mir wissen, nichts von mir wollen, bin gerettet und seit gestern Abend sitze ich hier.' - Lange Pause und ein Chok dazu, der Bettler war aufgesprungen, der Rabbi sah ihn an. ‚Ich muss schon sagen', sprach der Rabbi langsam, ‚ich muss schon sagen, du bist ein merkwürdiger Mensch. Wozu wünschst du dir denn alles, wenn du alles wieder verlierst. Was hättest du dann von deinem Reichtum und von deiner Herrlichkeit?' - ‚Rabbi', sprach der Bettler und setzte sich wieder, ‚ich hätte schon etwas, ein Hemd.' - Nun lachten die Juden und schüttelten die Köpfe und schenkten dem König das Hemd.“
Hier finden sich beinahe sämtliche charakteristische Merkmale einer chassidischen Geschichte versammelt. Die aphoristische Knappheit, die paradoxe Konfiguration (sich etwas zu wünschen, um es wieder zu verlieren), die frappierende Wendung in die Gegenwart, der "Fall ins Jetzt", der sich in der Verwandlung der Zeitenfolge in der Rede des erzählenden Bettlers konkretisiert, und nicht zuletzt die Thematik der verborgenen Identität. So erzählen viele chassidische Geschichten von Menschen, denen man ihr wirkliches Ich nicht ansieht, von Menschen, die sich oftmals selbst nicht kennen.
Erzählen mit Papier
Die Produktion "Engel in Fetzen" nahm ihren Anfang in einem Kurzbeitrag für das Projekt "Versuchungen" (eine Reihe szenischer Skizzen verschiedener Figurentheaterkünstler) im Rahmen des Internationalen Figurentheaterfestivals 1997. Unter dem Titel "Motive der Verborgenheit" hatte Jörg Baesecke drei Geschichten von Ernst Bloch erzählt und mit Hilfe von gerissenem, gefaltetem und geknülltem Papier in Szene gesetzt. Der begeisterte Zuspruch ermutigte zu weiteren Erkundungen der theatralischen Möglichkeiten von Papier und zur ausgreifenden Beschäftigung mit den chassidischen Geschichten, die sich so vorzüglich zum mündlichen Erzählen eigneten.
Natürlich reizte Papier als Material wegen der Fülle seiner plastischen Möglichkeiten, wegen der Eigenschaften, die eben nur Papier in sich vereinigt, wegen seiner spezifischen Materialität. Zugleich bot es sich aber auch in seiner historischen und kulturellen Funktion an, als Träger von Erinnerung und Schrift, als Stoff für Bücher und somit als symbolisches Kontinuum gerade der jüdischen Kultur.
Jörg Baesecke formt und gestaltet das Papier in mannigfachen Metamorphosen zu immer neuen Szenen und Bildern. Er zeichnet, lässt Papier-Figuren auftreten oder zeigt Bücher mit aus Fetzen zusammengesetzten Bildern. So entsteht eine leichte und ganz spezifische Illustrationsweise, die den Inhalt der Geschichten in Andeutungen begleitet und dem Zuhörer und Betrachter Raum für eigene Bilder lässt. Zugleich knüpft Baesecke an die beinahe verstummte Tradition des Geschichtenerzählens an, d.h. die Geschichten wurden nicht dramatisiert, sondern die sprachliche Erzählform der Geschichten bleibt bewahrt und wird lebendig vermittelt im Vorgang mündlichen Erzählens. So korrespondieren die Erzählweise und die szenische Umsetzung der Geschichten mit Papier auf subtile Weise mit den Traditionen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unserer Kultur.
Chassidismus
Der Chassidismus (Chassid bedeutet übersetzt etwa "der Fromme") ist eine jüdische Glaubensströmung, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Süden Polens, in Ostgalizien, Podolien und Wolhynien entstanden ist. Begründer dieser Erneuerungsbewegung - und Mittelpunkt zahlreicher Geschichten - war Israel Ben Elieser (ca. 1700-1760), genannt der Baal Schem Tow. Er trat ab 1735 als Wunderheiler und Wanderprediger auf. Rasch breitete sich der Chassidismus in ganz Polen aus, in Ungarn, in der Ukraine, Rumänien, Weißrussland und dem Baltikum, also im gleichen geographischen und kulturellen Raum, der auch die Klezmer-Musik hervorgebracht hat.
Kennzeichnend für den Chassidismus ist sein nachdrückliches Interesse an lebenspraktischen Fragen. Anders als für das orthodoxe Judentum nahm das Studium der heiligen Schriften für die Chassidim keine zentrale Rolle mehr ein. Darum fühlten sich hier viele einfache, weniger gebildete Menschen angezogen. Fasten und Askese lehnten sie ab: "Dienet dem Herrn mit Freuden!" (100. Psalm), war ihnen ein Leitsatz. Im Mittelpunkt stand für sie die persönliche Hingabe - im Gebet, in Gesang und Tanz, aber auch in den alltäglichen Verrichtungen. Gott, so lehrte der Baal Schem, ist das Wesen jedes Dinges. Und in allen Dingen, auch in den scheinbar völlig Toten, wohnen Funken des Lebens. Daraus ist ein Weltbild entstanden, in dem das Jenseits bereits im Diesseits zu finden ist, und das Leben nicht vornehmlich auf die Erwartung eines erst kommenden Heils ausgerichtet wird. Frohsinn beherrschte denn auch das Zusammensein der Gemeinde, bei den Festen gab es üppige Mahlzeiten, besonders an den Sabbaten, und es wurden dabei auch stärkere alkoholische Getränke nicht verschmäht. Die chassidische Fröhlichkeit ging aus von der Freude in Gott und erstreckte sich in rauschhafter Form auch auf das Leibliche.
Die chassidischen Geschichten sind anfangs mündlich weitergegebene Erinnerungen an bedeutende Lehrer (= Zaddikim), ihr Leben und ihre Aussprüche. Wunderberichte und Lehrgeschichten sind darunter, die oft als Paradoxon strukturiert sind. Vielleicht kann man darin sogar eine Art chassidischer Pädagogik sehen: Danach mag sich Erkenntnis zuweilen erst dann einstellen, wenn die Zuhörer und Zuschauer in einen Widerspruch stürzen.
In "Engel in Fetzen" werden Erzählstücke gezeigt, die auf Geschichten aus den Sammlungen von Martin Buber, Chaim Bloch, Samuel Avidor Hacohen, Alexander Eliasberg oder auf Funden bei Gershom Scholem, Ernst Bloch und anderen beruhen.