Haupt-Reiter
Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie
Gil Mehmert
Bühne
Heike Meixner
Kostüme
Kissi Baumann
Musik
Christian Ludwig Mayer
Es spielen
Jannike Schubert
Verena Rendtorff
Marie Ruback
Oliver Bürgin
Peter Wolter
Tim Kalhammer-Loew
Giorgio Spiegelfeld
Christian Ludwig Mayer
Hussam Nimr
Musiker
Christian Ludwig Mayer
Spielort
Großer SaalDauer
90 MinutenAlter
16+Premiere
14. Oktober 2006Alle Hoffnungen des verarmten Dorfes Güllen ruhen auf dem Besuch einer ehemaligen Mitbürgerin, die einst mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt wurde. Mittlerweile ist Sie Erbin eines armenischen Ölimperiums und bereit, dem Ort mit viel Geld zu helfen, allerdings unter einer Bedingung: Als Wiedergutmachung des Ihr widerfahrenen Unrechts will sie den Tod des Mannes, in den sie damals unglücklich verliebt war. Sie nennt das Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde...
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DER Dürrenmatt und DIE Kritik - ein besonderes Verhältnis
"Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat."*
Es gibt Theaterstücke, mit denen rennt die Dramaturgie zusammen mit dem Produktionsteam sehenden Auges in den Verriss. Wenn der Autor Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt heißt, dann ist schon bei der Planung klar, dass - unabhängig von der Qualität der Inszenierung - die Rezension mit folgenden Textbausteinen eröffnet wird: "Wenigstens bei Deutschlehrern ruft dieses Stück Begeisterung hervor" oder "Schreckenserinnerungen an die eigene Schulzeit werden wach" oder "Generationen von mehr oder weniger interessierten Schülern mussten im Verlauf der letzten 50 Jahre diese Lektüre über sich ergehen lassen".
Ein Kritiker, der seine Beurteilung so beginnt, braucht sich in den restlichen Zeilen keine Mühe mehr mit detaillierten Fragen zu geben, die Ausgangspunkt einer ernsthaften Kritik sein könnten.
Fragen statt Antworten I
"Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein."*
Wo, wenn nicht in der Schule, besteht die Chance, Schüler für Theater zu interessieren?
Wer, wenn nicht ein Kinder- und Jugendtheater, sollte zusammen mit Lehrern darüber nachdenken, wie dieses Interesse geweckt werden kann?
Was liegt näher, als hin und wieder Stücke in den Spielplan zu nehmen, die die Kultusministerien für den Lehrplan empfehlen?
Wie kann man für junge Leute, die unter unermesslichen medialen Einflüssen heranwachsen, mit Hilfe des langsamen Mediums Theater lebendige Geschichten erzählen?
Wie wichtig ist es, Schüler an die klassischen Stoffe von Euripides bis Dürrenmatt heranzuführen?
Was macht einen Klassiker zu einem Klassiker?
Wie kann man verhindern, dass Schüler "Lektüre über sich ergehen lassen" müssen?
Wie können Schüler nachvollziehen, was die Kraft des Theaters überhaupt sein kann?
Was ist falsch daran, wenn ein Lehrer seinen Bildungsauftrag kombiniert mit den Anforderungen des Lehrplans?
Fragen statt Antworten II
"Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen."*
Warum muss man gegen Deutschlehrer polemisieren, ("Wenigstens bei Deutschlehrern...") die mit der Klasse ins Theater gehen und die eigene Begeisterung an ihre Schüler weitergeben?
Versuchen Sie doch einmal, sich an die eigene Schulzeit zu erinnern. Welche Form des Unterrichts hätten Sie sich als Schüler gewünscht?
Welche Fächer waren - trotz ganz anderer Fragen, die man als Jugendlicher ans Leben hatte - interessant?
Oder war das Fach gar nicht so wichtig, sondern eher die Persönlichkeit und die Begeisterung bestimmter Lehrer?
Kann Theater nicht eine wunderbare Form des Erzählens sein, mit der die Neugier auf Erwachsenwerden, auf die Zusammenhänge im Leben geweckt werden können?
Was kann überzeugender wirken als eine Vorstellung, die eine Atmosphäre kreiert, in der man Probleme im Leben zu erkennen und auszuhalten in der Lage ist, ihnen vielleicht trotzen kann, und dadurch ein paar Antworten auf bisher ungestellte Fragen bekommt?
Und warum soll das nicht klappen mit einem Stück von Friedrich Dürrenmatt?
Das Stück - Das Thema
"Was alle angeht, können nur alle lösen."*
Der wichtigste Impuls, DER BESUCH DER ALTEN DAME in den Spielplan zu nehmen, war die Tatsache, dass das Stück ungeheuer aktuell ist. Wenn es einem Regisseur gelingt, die Fünfzigerjahre-Patina zu entfernen, dann kommt eine gallenbittere Groteske zum Vorschein, die von einem zeitgenössischen Autor geschrieben sein könnte, als Reaktion auf die gegenwärtige gesellschaftliche und ökonomische Lage, eine "tragische Komödie", wie Dürrenmatt sein Stück im Untertitel nennt, das uns einen Spiegel vorhält, in dem wir uns selber in apokalyptischen Bildern erkennen können – wenn wir wollen.
Dürrenmatt zeigt seine Erfahrung, wonach die gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Art und Weise komplex, bürokratisiert und mechanisiert sind, dass sie weder zu durchschauen noch zu beherrschen sind. Er beschreibt diese Einsicht anhand des moralischen Verfalls eines Dorfes unter dem Druck ökonomischer Schwierigkeiten und kommt zu der Erkenntnis, dass der Mensch gegen besseres Wissen der Verführungskraft des Geldes nicht widerstehen kann.
In dem unbeschreiblich verwahrlosten Dorf Güllen sitzen klagend die Bürger und verstehen das Schicksal nicht. Ihre Erklärungen der Missstände sind ebenso falsch wie ihr Bewusstsein über die Verantwortlichen des Elends und die Möglichkeiten der Veränderbarkeit. Sie reden viel von Werten, Kultur, Gerechtigkeitsliebe und Sinn für Wohltätigkeit. Ihr Handeln allerdings ist geprägt von Profitsucht, Machenschaften und Tücke.
Alle Hoffnungen ruhen auf der ehemaligen Bürgerin Claire Wäscher, heute Claire Zachanassian, Erbin eines armenischen Ölimperiums, das ihr der verstorbene Gatte vermacht hat. Einst war die Multimillionärin mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt worden. Um die Vorgänge hat sich im Laufe von 45 Jahren eine Hülle des Schweigens gelegt. Nun haben die Güllener einen Plan: Der Krämer Ill, der damals mit ihr befreundet war, bekommt von den Dorf-Honoratioren den Auftrag, ihr die benötigten Millionen durch Schmeicheleien aus der Tasche zu ziehen. Das lässt die Zachanassian nicht mit sich machen. Freiwillig hält sie den Dorfbewohnern unermessliche Geldbeträge vor die Nase wie eine leckere Wurst. Allerdings unter einer Bedingung: Sie will den Tod von Ill als Wiedergutmachung für verratene Liebe, Bestechung, Meineid, Rufschädigung und Käuflichkeit vor 45 Jahren. Sie ist zurückgekehrt und will Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde.
Die emphatische Ablehnung der Summe durch den Bürgermeister ist ebenso doppelbödig und hohl wie die Beschwichtigungen der anderen "Strippenzieher". Der Konsum aller Einwohner auf Kredit beginnt unmittelbar nach Zachanassians Tribunal. Zwangsläufig ist damit Ills Schicksal besiegelt.
An Werte zu appellieren hat keinen Sinn, wenn sie nicht Ausdruck einer kollektiven Gesinnung sind. Die Worte täuschen einen Wertkonsens vor, von dem die Bürger sich gerne einlullen lassen. Es kommt zu einer Umwertung aller Werte, die der Autor mit schmerzlicher Präzision vorführt. Wenn Humanität mit Kommerz verquickt wird, wenn sich keiner dem Konsum auf Kredit versagt, wenn man nicht mehr nur schweigt, sondern verhindert, dass die Wahrheit ans Licht kommt, dann wird die Lüge zur Weltordnung. Wer glaubt, den Pakt mit dem Teufel durch Raffinesse gewinnen zu können, der ist schon des Teufels Beute. Das zeigt uns Dürrenmatt.
Für eine Generation, die mit "Geiz-ist-Geil"-Parolen und Einflüsterungen groß wird, wonach der Besitz anerkannter Markenartikel einen zum anerkannten Menschen mache, kann dieses Stück – trotz der 50 Jahre, die es inzwischen auf dem Buckel hat - eine wunderbare Provokation und Denkhilfe sein.
Die Inszenierung
"Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit."*
Die Inszenierung von Gil Mehmert sucht die Aktualisierung in der Reduktion, in der Beschränkung der Theatermittel. Wo Dürrenmatt einen ganzen Bahnhof und ein halbes Dorf samt Wirtshaus, sowie Feld- und Waldambiente vorschreibt, genügt dem Regisseur in unserer Vorstellung ein runtergekommener Bürgersaal, um das Labyrinth zu beschreiben, in dem sich der Untergang der Weltordnung strudelartig vollzieht. Es entstehen filmartige Tableaus, die verstärkt werden durch die Funktion der Musik, die – wie in allen Gil Mehmert-Inszenierungen - eine ganz wichtige Rolle spielt. So schält sich der Parabelcharakter des Stücks heraus: Der Parabel von der Unmöglichkeit, sich der Verführbarkeit durch das Geld zu widersetzen.
*Die Kapitelüberschriften stammen von Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den PHYSIKERN, geschrieben für den Sammelband Komödien II und Frühe Stücke