Zoff in Chioggia

Dauer

100 Minuten

Alter

Ab 15 Jahren

Premiere

05. Oktober 2012

Chioggia ist in dieser Bearbeitung von Goldonis "Krach in Chiozza" nicht nur ein Fischerdorf nahe Venedig, sondern auch der Name eines Cafés, in dem der titelgebende Zoff ausbricht. Grund für den Streit sind die schlecht laufenden Geschäfte im "Chioggia". Der Besitzer Isidoro sucht nach einem neuen Konzept. In einem Akt der Verzweiflung fordert er alle Mitarbeiter auf, innerhalb von 3 Tagen Vorschläge zu machen, wie das Lokal attraktiv werden kann. Ansonsten muss das "Chioggia" schließen. Der Autor Nuran David Calis schuf damit eine zeitpolitische Komödie, in der die drohende Pleite des Cafés "Chioggia" als Metapher für wegbrechende Sicherheiten im Vordergrund steht. Und ganz im Geiste Goldonis wird dies angriffslustig, komödiantisch und wirklichkeitsnah erzählt.

Nächste Termine

Zoff

Der Stücktitel lässt viel Streit vermuten, und in der Tat, in diesem Stück sind alle Figuren so tief in Missverständnisse, Enttäuschungen, Niederlagen, Fehlinterpretationen, Gerüchte verwickelt, dass Zoff unvermeidlich ist. Die ganze Community balanciert auf einem sehr schmalen Grat. Arbeitskollegen stehen sich voller Misstrauen gegenüber, Familienmitglieder streiten, Bruder und Schwester ebenso, die Liebespaare haben unerfüllbare Erwartungen aneinander, Ehepaare giften sich an, vermeintliche Nebenbuhler bedrohen sich mit Waffen, die Mutter macht den Sohn fertig. Kurz: Die Nerven aller Beteiligten liegen blank. Da „Zoff in Chioggia“ eine Komödie ist, geschieht dies alles voller Bissigkeit, Humor, Wiedererkennung, Wahrhaftigkeit und Witz.

Es rumort

Die Stimmung brodelt. Dafür gibt es Ursachen, die außerhalb dieser Menschen liegen. Chioggia ist eine italienische Stadt in der Nähe Venedigs mit langer Fischfang-Tradition. Früher war der Besitzer eines Fischkutters ein angesehener, honoriger Bürger. Heute ist er genau so ein armer Hungerleider wie seine angestellten Fischer, denn die Geschäfte laufen schlecht.

 
Etwas verändert sich. Eine alte Zeit trifft auf eine neue. Es rumort in der Gesellschaft. Das spürt Isidoro, der Besitzer des Cafés „Chioggia“ empfindlich. Obwohl er viel in seinen Laden investiert hat, bleiben die Gäste aus.

Das „Chioggia“ in diesem Stück ist nicht nur ein krisengeschütteltes Lokal, sondern eine Metapher für wegbrechende Sicherheiten. Darin verstrickt sind zwei Familien, der Wirt und ein paar Jungs. Sie alle arbeiten dort - schon lange ohne Bezahlung. Im Hinblick auf ihre Zukunft, ihr Schicksal, sind alle äußerst besorgt. Was ihnen fehlt, ist ein mentaler und emotionaler Anker. Das Maß an Loyalität und Vertrauen untereinander ist gering. Zugleich ist die Sorge groß, total nutzlos zu werden. Am Schluss gelingt es allen, diese Angst vor dem Abstieg in eine vitale Kraft zu verwandeln. Die Vorstellung endet in einem Mutmachausblick voller Optimismus.

Familie Toni

Das Familienoberhaupt Padron Toni ist Besitzer eines Fischkutters und zugleich ein gebildeter Mann. Beides hilft ihm in der Krise nix. Seit einem Monat hat ihn der Besitzer des „Chioggia“ nicht mehr bezahlt, obwohl er jeden Tag frischen Fisch und Gemüse liefert. Den Jungs, die ihm helfen, kann er keinen Lohn zahlen. Diese Umstände knacksen an seinem Selbstbewusstsein. Zwar kämpft er darum, die Zeit, in der er lebt, zu verstehen. Aber die Angst, überflüssig zu sein, verschwindet dadurch nicht. Als die Zeiten in der Fischerei gut waren, wurde die Gemeinschaft durch den gemeinsamen Überlebenskampf zusammengehalten. Jetzt kämpft jeder allein, und zwar meist gegen jeden. Sogar innerhalb der Familie. 

Seine Frau Pasqua ist eine harte Person geworden, die sich in die Arbeit flüchtet und ihren Mann ebenso abschätzig behandelt wie ihren Sohn Beppo. Dabei brauchte gerade er dringend elterliche Hilfestellung und Ermutigung. Im Gegensatz dazu weiß seine Schwester Lucietta mit klarem Blick, dass man aus dem Lebensschlamassel nur herauskommt, wenn man Chioggia verlässt. Hauptsache weg! Aufbruch ist wichtiger als das Ziel. Wer sich nicht bewegt, ist out. Ihr Motor ist die unbegründete Hoffnung, dass sich allein schon durch Veränderung irgend eine Chance ergeben wird.

Familie Madonna

Diese Familie ist nicht mehr komplett. Fischer ist ein gefährlicher Beruf. Das muss diese Familie schmerzhaft durchleiden. Getrieben vom Verantwortungsgefühl für seine Familie ist der Vater bei schwerer See zum Fischen aufs offene Meer gefahren und umgekommen. Seitdem muss sich die Mutter zweier Kinder allein durchschlagen, was ihr mehr schlecht als recht gelingt. Leicht hat sie es nicht. Am Arbeitsplatz im „Chioggia“ fühlt sie sich gemobbt von Pasqua. Mit viel Kraft versucht sie, das eigene Leben vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Ihre Tochter Checca ist ein recht realitätstüchtiges Mädchen, die von Beppo geliebt wird. Aber der Sohn Fortunato hat durch den Tod des Vaters einen schweren Knacks bekommen. Ein stabiles Elternhaus sieht anders aus.

Isidoro - Der Wirt

Isidoro ist der Betreiber des „Chioggia“. Einer seiner ersten Sätze im Stück lautet: „Für so was bin ich zu alt.“ Diese Feststellung gilt seinem Versuch, einen Werbespot für sein Lokal zu formulieren. Selbstkritisch erkennt er, dass er nicht den richtigen Ton trifft, um sein Café attraktiv zu vermarkten. Er hat viel in sein Lokal investiert. Kartons voller Neuanschaffungen türmen sich. Ob er dabei die richtigen Entscheidungen getroffen hat, bleibt zu fragen. Aber ein Zurück gibt es für ihn nicht. Eines allerdings steht für ihn fest: Es kann nicht nur das Geld sein, was das Leben zusammenhält. Dazu braucht es Vertrauen, Zugehörigkeit, Anerkennung und Handlungsfähigkeit.

Wenn Menschen nicht mehr daran glauben, dass ihre Probleme lösbar sind, dann endet ihr Denken in die Zukunft. Immer und immer wieder kreisen sie um den Punkt, dass etwas getan werden müsse. Aber nichts geschieht. Es ist wie beim Kaninchen, das fixiert auf die Schlange starrt. Um den Ausweg aus dem Hamsterrad des rasenden Stillstands zu finden, fordert Isidoro alle Mitarbeiter auf, Ideen zu produzieren, wie Kundschaft in den Laden gespült werden kann. Drei Tage gibt er ihnen Zeit, dann wird das „Chioggia“ geschlossen, falls die Gäste weiterhin ausbleiben. Er selbst hat schon eine Entscheidung getroffen: Er engagiert Toffolo, einen bekannten Darsteller aus einer Kaffeewerbung im Fernsehen. Wenn dieser Promi den Kaffee serviert, wird das „Chioggia“ sicher ein Hit.

Titta Nane, Vincenzo und Toffolo - Die Jungs

Titta Nane hat seine Eltern an das Meer verloren. Er selbst überlebte, wurde an den Strand gespült und von Isidoro aufgenommen, der ihn zum Erben des „Chioggia“ machen möchte. Daraus entsteht ein großes Problem: Seine Freundin Lucietta will unbedingt weg. Er hat Sehnsucht nach einem Anker. Deshalb klammert er sich an sie, was bei ihr um so stärkere Abwehrreaktionen auslöst. Fernweh versus Heimweh. Sie scheinen verschiedene Wege gehen zu müssen, obwohl sie sich sehr mögen.

Vincenzo gibt vor, der absolute Medienspezialist zu sein. In Sachen Werbung und weltweiten Netzen hält er Isidoro große Vorträge und weckt Hoffnung auf blühende Geschäfte. Auf den ersten Blick könnte man ihn für einen Aufschneider halten. Dieser Eindruck täuscht, denn er hat noch eine ganz andere Seite. „Ich will an einen Ort, an dem ich meine Träume pflanzen kann, dessen Wurzeln sich tief in die Erde drücken.“ 

Deswegen träumt auch er vom Weggehen. Ob das eine Erfolgsgeschichte werden kann, fragt er zunächst nicht. Klar ist: Wer nichts einsetzt, akzeptiert sich selbst von vornherein als Verlierer. Das Entscheidende ist, die Anstrengung auf sich zu nehmen, den Sprung zu wagen, auch wenn die Vernunft einem zuflüstert, dass man zum Scheitern verurteilt ist.

 
Toffolo ist der Kaffeemann. Er ist ein bekanntes Gesicht aus der Fernseh-Werbung. Als er leibhaftig in Chioggia auftaucht, sind alle von der Rolle. Die Frauen, weil er so gut aussieht. Die Jungs, weil er so gut aussieht. Plötzlich sind Waffen im Spiel.

Klarheit

Streit, Bleiben oder Gehen, Orientierungslosigkeit, Verzweiflung, Zoff, Schuldzuweisungen, Krach, Aggression. Durch einen unvermittelten Zusammenbruch – das ist wörtlich zu verstehen, denn das Bühnenbild kracht komplett zusammen – kommen alle zu einer Klarheit. Allmählich erkennen sie, was zu den zerstörerischen Vorgängen unter einander und dem Verlust von Gemeinschaft geführt hat: Schritt für Schritt gelingt es jedem, offen von seinem Scheitern zu reden.

Scheitern ist ein großes gesellschaftliches Tabu, das man meist nur mit sich allein bearbeiten kann. Es fällt sehr schwer, darüber zu reden. Aber es ist ein wichtiger Schritt, um eine zusammenhängende Interpretation des Geschehenen und der eigenen Rolle zu finden. Und weil das Theater ein Ort der Magie und Visionen ist, entstehen aus Zusammenbruch und Zoff eine große gemeinsame Kraft und Klarheit. Denn nicht nur Isidoro weiß: Um zu gedeihen und ein gutes Leben zu führen, braucht es mehr als nur Geld. Zum guten Leben gehört auch die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, die Achtung der anderen, dass man sinnvolle Arbeit beitragen kann und Teil der Gemeinschaft ist. Am Ende finden die Spieler – ohne Worte – dafür ein überzeugendes Bild. Diese Vorstellung endet nicht auf der Bühne, sondern im Kopf des einzelnen Zuschauers.

Das Team

Nuran David Calis ist 1976 in Bielefeld als Sohn armenisch-jüdischer Eltern geboren. Als Jugendlicher verbrachte er seine Zeit mit Boxen und Hip-Hop. Zu Literatur und Theater kam er über Umwege. Ehe er ein Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule absolvierte, verdiente er viel Geld als Türsteher. Über die Zeit vor seiner Karriere als Regisseur und Autor hat er einen Roman geschrieben „Der Mond ist meine Sonne.“ „Zoff in Chioggia“ entstand als Auftragsproduktion für das Schauspielhaus Bochum. 

Beat Fäh ist 1952 in Zürich geboren und besuchte ab 1965 die Klosterschule Maria Einsiedeln. Fast ein halbes Jahrhundert später wird er im Jahr 2013 das berühmte Welttheater Einsiedeln inszenieren.
Beat Fäh arbeitet seit vielen Jahren an der SCHAUBURG. In den letzten Jahren entstanden unter seiner Regie „Der Sturm“ von Shakespeare, „Paranoid Park“, eine Romanbearbeitung nach Blake Nelson und „Frühlings Erwachen“ in der Fassung von Nuran David Calis.

Christian „Taison“ Heiss ist 1976 in München geboren. Schon als Schüler kam er durch Punk zum Selber-Musik-Machen. Inzwischen oszilliert er zwischen Avantgarde-Musiker bei Portmanteau und Mitglied der Pop-Band Lali Puna. An der SCHAUBURG war er u.a. zu hören und zu sehen in „Eine Odyssee“, „Prinz Eisemherz“, und „Paranoid Park“.

Michael Kraus ist 1968 in Esslingen geboren. Er studierte bei Prof. Jürgen Rose an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Seit 2000 arbeitet er freischaffend in ganz Deutschland. An der SCHAUBURG hat er schon mehrere Produktionen ausgestattet: „Das Trollkind“, „Eine Odyssee“ und „Paranoid Park“.

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