Südseekeller

Dauer

90 Minuten

Alter

Ab 9 Jahren

Premiere

08. Juni 2007

In die Ferien fahren – das gehört doch zum Leben. Das macht jeder. Darauf hat man ein Recht. Aber die Reisekasse der Familie ist leer, weil Vater auf eine schlechter bezahlte Stelle wechseln musste. Was nun? Ab in den Keller! Die Luftmatratzen sind aufgeblasen, der Camping-Kocher ist startklar. Schöne Ferien! Und es werden schöne Ferien! Südseekeller - ein Familienurlaub mit viel Musik.

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„Südsee“ – das ist Sommer, Sonne, Strand, Surfbrett, Sehnsucht. Ursprünglich war „Südsee“ die älteste Benennung für den Pazifischen Ozean. Heute ist es der umgangssprachliche Begriff für die Inseln Ozeaniens. Aber unabhängig von geographischen Details verbinden wir mit „Südsee“ vor allem gutes Leben, reiche Leute, Sorgenfreiheit, Paradies.

Zu „Keller“ fallen uns Kisten, Koffer, Kartoffeln, Kohlen, klamme Kälte ein. Aber wir denken auch an Abstieg, an die Angst vor gesellschaftlichen Statusverlust. An den Absturz. An „Kellerkinder“. An die Unterprivilegierten. Im Keller will niemand landen.

Verkürzt könnte man sagen, dass es sich bei einem „Südseekeller“ um ein Asyl für Menschen handelt, die lauthals in ihrer Umgebung kundgetan haben, in welcher exotischen Region sie dieses Jahr ihren Urlaub verbringen werden, den sie aber gar nicht finanzieren können. Um nicht dem Gespött der Nachbarn und Freunde ausgesetzt zu sein, fliehen sie aus der eigenen Wohnung in den Keller. Sie tun so, als ob sie gen Süden abgereist wären und verbarrikadieren sich im Keller. So können sie den Schein wahren. Die Rollläden sind heruntergelassen, kein Familienmitglied ist am Fenster oder auf dem Balkon zu sehen, weder aktive Fernseher noch Zimmerbeleuchtung können die Bewohner verraten. Alles ist dunkel.

Vielleicht klingt diese Definition für manchen wie ein alberner Scherz. Aber der Plot des Stücks basiert auf einer wahren Geschichte. Eine Zeitungsnotiz über eine Familie, die tatsächlich während ihrer Ferien in den eigenen Keller gezogen war, weil sie es als Schande empfand, sich keinen Urlaub leisten zu können, war der Ausgangspunkt für Jule Ronstedts Fantasie zu diesem Stück.

Armut – und dazu gehört auch gefühlte Armut – ist ein großes Tabu in unserer Gesellschaft. Es wird als Bloßstellung empfunden, als persönliches Versagen, wenn man sich bestimmte Konsumstandards nicht mehr leisten kann. Man fühlt sich abgestempelt als Verlierer. Aber nicht nur die Frage, wie man sich selber sieht, spielt eine wichtige Rolle. Fast noch wichtiger ist die Angst, dass einen die anderen, Nachbarn, Freunde, Bekannte als Loser sehen. „Als Elendsbeispiel geh ich hier nicht durch unsere Siedlung, damit sich alle anderen besser fühlen.“ lässt Jule Ronstedt die Mutter an einer Stelle des Stücks sagen.

Dieses Gefühl kennen Kinder aus Familien, in denen man mit jedem Cent rechnen muss, sehr gut. Wer in die Schule kommt mit No-Name-Klamotten, der verliert jegliches Ansehen in der Klasse. „Muss ich jetzt auch Caritas-Klamotten anziehen? Bei uns in der Schule gibt es ein Mädchen, die ist eigentlich ganz nett. Aber ihre Eltern haben null Kohle, die sind richtig arbeitslos oder Künstler. Jedenfalls sieht die immer voll peinlich aus. Die hat nicht mal einen Eastpak, sondern nur einen Jutebeutel für ihre Bücher.“ So formuliert die Tochter ihre Kinder-Angst vor dem sozialen Abstieg.

Unser Wirtschaftssystem hat die Bedeutung von Arbeit in den letzten 30 Jahren einschneidend verändert. Von immer mehr Menschen wird verlangt, sich flexibel zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und Formalitäten zu werden. Das Leben vieler Menschen verläuft nicht mehr linear. Häufig werden sie immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in einen anderen geschoben, wenn sie nicht gleich auf die Straße gesetzt werden. Sie sind nicht mehr Autoren ihrer eigenen Biographie. Unter solchen Umständen ist es natürlich, dass dieser Zustand Angst erzeugt.

Der schwierigste Aspekt der geforderten Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter, den ethischen Wert, den man eigenen Entscheidungen und Beziehungen zu anderen beimisst. Horaz hat definiert, dass der Charakter eines Menschen von seinen Verbindungen zur Welt abhänge. Charakter drückt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch das Verfolgen langfristiger Ziele.

Wie aber soll das ohne Angst möglich sein, wenn man im Rahmen einer komplett auf Kurzfristigkeit ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Haben Werte einen Sinn, wenn man sich selber fühlt wie ein Blatt im Wind? Das waren die Fragen für Jule Ronstedt nach der Lektüre des oben angesprochenen Zeitungsartikels. Ihr sind viele Antworten eingefallen. Und so beschreibt sie in dem Stück unterschiedliche Möglichkeiten, mit den Rissen in der Seele, mit der Angst vor dem Absturz umzugehen, die zwar nicht immer moralisch einwandfrei sind, aber doch von einer pfiffigen Energie der Betroffenen zeugen.

Da ist zunächst der Vater, der von seinem bisherigen Arbeitsplatz auf eine viel niedriger dotierte Stelle umgesetzt wurde und über diese Schmach zuhause geschwiegen hat. Statt Tickets für den Familienurlaub auf den Seychellen zu kaufen, hat er Vorbereitungen getroffen für Keller-Ferien: Lebensmittel, Campingklo, Schlafsäcke, Radio. Natürlich kann man ihn, der die Wahrheit unterschlagen hat, für seine Lügen verurteilen. Und seine Frau tut das. Man könnte aber auch Verständnis haben. Er steht unglaublich unter Druck, denn er wusste, wie wichtig seiner Frau diese Reise ist. Ihm war klar, dass sie fassungslos auf seine berufliche Degradierung reagieren würde. Deshalb hat er nie den Mut aufgebracht, darüber zu reden. Nun steht das Unausgesprochene zwischen den Eheleuten wie ein Eisberg.

Die Mutter fällt aus allen Wolken. Ein solcher gesellschaftlicher Absturz scheint für sie zunächst nicht verkraftbar. Sie fühlt sich als Opfer. Als Opfer eines Versager-Ehemanns. In ihrer Fassungslosigkeit ist sie unglaublich beleidigend und verletzend gegen ihren Gatten. Und sie zerfließt in peinlichem Selbstmitleid. Aber zugleich ist sie realitätstüchtig. Lieber als ein ramponiertes Ansehen bei Freunden und Nachbarn nimmt sie den zweiwöchigen Kelleraufenthalt in Kauf. Nach ausgiebigen Beschimpfungstiraden akzeptiert sie den Vorschlag ihres Mannes.

Das ganze Drama spielt sich vor den Augen und Ohren der zwölfjährigen Tochter ab. Diese steht zwischen den Eltern und versucht, für sich selber Orientierung im Chaos zu finden. Mal hat sie Mitleid mit ihrem Vater, mal steht sie mit optimistischer Laune auf der Seite der Mutter. Und zwischendurch hat sie den total klaren Blick: „Ich verpasse mein halbes Leben, wenn ich in diesem Loch bleibe. Dabei bin ich verliebt und habe eine Zukunft, und zwar ohne Euch! Ich bin froh, wenn ich Euch los bin und meine eigenen Fehler machen kann und nicht Eure ausbaden muss.“

Die einzige Figur, die die Bedürfnislosigkeit propagiert, ist die eigentliche Herrin des Kellers, die Ratte. Sie lebt nach dem Motto des römisches Philosophen Seneca: Nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht, ist arm.

Südseekeller“ ist eine Komödie, kein Sozialdrama. Konflikte sind verdichtet statt realistisch, die Wirklichkeit wird auf grotesk überhöhte Art dargestellt. Der Albtraum des Alltags ist mit großer Menschenliebe gezeichnet, aber als absurde Posse.

Um diese Wirkung zu verstärken, hat Jule Ronstedt zusammen mit den Musikern Toni Matheis und Tobias Weber Lieder gesucht, die in die Szenen eingebaut wurden. Dabei handelt es sich mit einer Ausnahme um bestehende Schlager, die als Handlung fungieren. Mal als Wunsch- oder Hoffnungsausdruck, mal als Rückblick und Erinnerung an Zeiten, als man voller Zuversicht und Mut in die Zukunft blickte. Was bei der Auswahl zählte, war der Text der Lieder.

Und so kam eine wilde Mischung von Capri-Sehnsucht aus den Fünfzigerjahren bis zu Louis Armstrong und dem unvermeidlichen Herbert Grönemeyer zusammen. Dies erscheint uns die geeignete Form, um ein ernstes Thema theatralisch zu behandeln, von dem viel zu viele junge Zuschauer betroffen sind und nicht darüber reden wollen.

Eltern sind – zumindest in der Vorstellung und Erwartung der Öffentlichkeit und der Politik – Felsen in der Familien-Brandung. Eltern hegen, schützen und pflegen. Eltern geben Vorbilder ab, bieten Orientierung. Eltern sind die Menschen, an die wir uns ein Leben lang wenden können. Was aber, wenn Eltern all diese Rollen und Funktionen gar nicht mehr erfüllen können, weil der eigene Lebensweg so unübersichtlich geworden ist, dass sie selber die Orientierung verloren haben?

Vor Kindern gibt es keine Geheimnisse. Kinder wissen um die Krisen ihrer Eltern, die oftmals keine von Lebensstürmen umtobte Felsen in Meeresbrandung sind, sondern selber gegen das Kentern ankämpfen: Komplizierte Erwachsene mit komplizierten Problemen in einer komplizierten Welt.

Gleichheit, zumindest Chancengleichheit war im letzten Jahrhundert ein vorrangiges gesellschaftliches Ziel. Sich für eine egalitäre Gesellschaft einzusetzen, hatte einen hohen Status. Das ist lange her. Die Probleme sind aber nicht verschwunden. Im Gegenteil. Sie haben sich verschärft. Laut Statistik leben 11 Millionen Deutsche an der Armutsgrenze. Unter dem Stichwort „Geldmangel“ findet man im Internet 330 000 Einträge. Und am schärfsten davon betroffen sind die Kinder. Die Angst vor dem Abstieg in den sozialen Keller darf kein Tabu bleiben. In „Südseekeller“ wird so intensiv gegen das Schweigen geredet und gesungen, bis tatsächlich Palmen und ein unglaublich karibischer Sonnenuntergang im klammen Keller Wirklichkeit werden.

Jule Ronstedt ist am Ammersee aufgewachsen und vielen Münchner Theatergängern durch ihr Engagement an den Münchner Kammerspielen von 1996 bis 2000 noch bekannt. Seither arbeitet sie als freie Schauspielerin und Regisseurin. In der letzten Spielzeit hat sie an der SCHAUBURG das Kinderstück „FlussPferde“ inszeniert. Und im letzten Sommer hat sie in dem Film „Wer früher stirbt, ist länger tot“ als entzückende Lehrerin auf sich aufmerksam gemacht.

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