Haupt-Reiter
Seiten, die auf Striche und Gekritzel verweisen
Regie:
Guy Cassiers
Mitarbeit:
Hildegard de Vuyst
Ausstattung:
Andrea Spanier
Stimmtraining:
Margarethe Adler
Es spielen:
Peter Ender, Evelyn Grossmann, Andrea Sawatzki, Corinna Beilharz, Thorsten Krohn, Karl Achleitner, Silke Nikowski, Heio von Stetten, René Dumont
von Willy Thomas
Deutsch von Henri Bloemen
Nächste Termine
Suchen und Verändern
„Striche und Gekritzel“ ist eine poetische Parabel auf den Sinn im Leben. Es wird die Geschichte von neun Figuren erzählt, die auf der Suche nach Etwas sind. Da sie nicht wissen Was sie suchen, enden sie im Nichts.
Noch zu Beginn des Stücks scheinen uns die Figuren vertraut: Es treten auf der König, das Mädchen, die Mutter, das verliebte Paar,
die beiden Freunde, der Trinker, die Schwangere, man glaubt sie alle zu kennen. Doch im weiteren Verlauf der Handlung verändern sich die Figuren derartig, dass sie nichts mehr gemein haben mit diesem vertrauten Bild. Am Ende tut es weh, ihnen zuzusehen. Und hat man sich vorher noch lauthals über Ihr Treiben ausgelassen, bleibt einem nun das Lachen im Halse stecken.
Der Wolf
Es geht nicht geheuer zu in diesem Wald. Die Bäume und der Wolf sprechen nicht nur miteinander, sie lieben sich. Der Wolf: „Schau, wie sich die Äste reiben. Und wie die Blätter sich miteinander versöhnen. Sie rollen sich zusammen und wieder auseinander, um sich kurz danach wieder ineinander zu verkriechen. Das junge Laub leckt das Laub des Nachbarn. Sie pressen das Harz aus den Rinden.“
Der Wolf fühlt sich zuhause in dieser seltsamen Umgebung. „Ich habe die Menschen und ihre Städte satt. Ich verbeuge mich vor
dem Applaus der Wolken.“ Sein großes Vorbild ist Diogenes, der griechische Denker, der nach der Überlieferung 323 v. Chr. starb und der bekannteste Vertreter, der Lehre von der Bedürfnislosigkeit als höchstem Gut (Cynismus) war.
Der Wolf sucht die Auseinandersetzung mit diesem geheimnisvollen Wald. Ohne zu wissen, wo das hinführt, nimmt er diese Herausforderung an, das Ungewisse offen und neugierig auf sich zukommen zu lassen. „Das Ziel ist in der Seele versteckt“.
Leopold
Leopold, Wolfs Freund, fühlt sich sehr fremd in dieser unheimlichen Umgebung. Weil er mit dem Wolf befreundet ist, lässt er sich auf dieses Abenteuer ein und macht Dinge, die er eigentlich nicht
versteht.
Am Ende des Stücks sind sie die einzigen, für die das Leben weitergeht.
Selva, alias Wiesel
Die Dritte im Bunde, Wiesel, heißt eigentlich Selva. Sie ist als Mann verkleidet und sucht denjenigen, dem die Kleider, die sie auf dem Leib trägt, gehören. Drei Jahre hat sie Ihm geschrieben, ohne ihn je gesehen zu haben. Genauer gesagt, hat sie die Briefe
schreiben lassen – vom Wolf.
Dann trifft sie Ihn endlich und das vollendete Glück scheint zum greifen nah. Doch plötzlich verliebt sie sich in den Wolf und resigniert stellt sie fest: „Jetzt steh ich hier allein mit meiner Liebe.“
Der Alte Mann
Erzähler der Geschichte ist der Alte Mann. Er hat viel Ähnlichkeit mit einem Engel. Da er aber nur einen Flügel hat, kann er nicht fliegen. In grauer Vorzeit hat er sich in zwei Persönlichkeiten gespalten, um seine innere Zerrissenheit für sein Leben erträglich zu machen. So ist neben ihm sein Alter Ego, der Königsgleiche, entstanden (Konsequenterweise werden beide Figuren von einem
Schauspieler dargestellt).
Im Moment der Spaltung haben sich die Wege dieser Beiden getrennt. Während der Alte Mann weiter auf der Suche nach dem richtigen Weg und einer Botschaft war, gründete der Königsgleiche an der Stelle, an der sie sich getrennt hatten, mitten in diesem Zauberwald, die Stadt seiner Sehnsucht.
Die Einladung
In dieser Stadt gab es kein Zeichen von Leben. Nur ein großer Schwarm weißer Tauben bewohnte das tote Gestein. So kam der Königsgleiche auf eine Idee. Er sandte seine Tauben mit einer Einladung in die Welt: „Es wäre mir eine große Ehre, Sie als Gast
begrüßen zu dürfen. Dieser Vogel wird Sie zu der Stadt bringen, die auf Sie wartet und in der ETWAS aus NICHTS entstehen kann.“ Wer folgt der Lockung des selbsternannten Erlösers?
Der Trinker, Das Mädchen-schwanger, Die Mutter
Die ersten Ankömmlinge sind der Trinker und ein Mädchen, das sich Europa nennt. Sie erkennt die Probleme des „Erlösers“ sehr schnell und macht sich einen Spaß daraus, mit ihm zu spielen. Sie verwandelt die ganze Welt kurzerhand in ein Theater, nichts ist ihr ernst.
Seit der Einladung der Tauben hat der Trinker den Entschluss gefasst, trocken zu bleiben. Das behauptet er jedenfalls gegenüber Europa. Aber kaum gesagt, springt sein Aktenkoffer auf und eine ganze Batterie von Flaschen wird sichtbar. Als seine Vorräte durch eigene Ungeschicklichkeit zerbrechen, zerbricht auch er selbst zusehends. „Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich auf einem anderen Planeten gelandet bin.“ Dann tritt eine Frau auf und er vermutet, seine Mutter wiedergefunden zu haben.
Diese Mutter hat sieben Kinder in die Welt gesetzt. Sind es etwa ihre Kinder, die sich in der einst leeren Stadt treffen? Zwar
leugnet sie, die Mutter des Trinkers zu sein. Aber der Zuschauer weiß es besser. Von sich selber sagt sie, dass sie es spannend fand, in ihrem Alter noch einmal Blödsinn zu machen. Deshalb sei sie dieser Einladung gefolgt.
Das schwangere Mädchen ist das Gegenteil der Mutter. Sie sieht das ganze Leben nur als Spiel. „Ich will Heiterkeit, keine Probleme.“ Ihr ist nichts ernst, nicht mal sie selbst. „Ich habe eine schreckliche Jugend gehabt, und ich bin auch schrecklich dumm, (...)“ sagt sie über sich selber. Am Anfang spielt sie das Kind, am Ende ist sie es wirklich. Da ihre Kommunikation nur über Spotten und Piesacken stattfindet, wobei sie sich selbst davon nicht ausnimmt, bleibt sie am Ende hoffnungslos allein. Ihr Verhängnis ist, dass sie immer erst agiert, bevor sie über die Dinge nachdenkt. Ihr ersprießlichster Spielball ist der unglückliche Erich.
Erich
In Frauenkleidern irrt er umher, auf der Suche nach der dazugehörigen Frau. Der Zuschauer ahnt sehr bald, dass er derjenige ist, den Selva, alias Wiesel, nach dreijähriger Korrespondenz und einem kurzen Rendezvous verlassen hat.
Dieser Erich ist die personifizierte Entschuldigung. Bezeichnenderweise redet er ständig in falsch verwendeten Höflichkeitsfloskeln. Zur Begrüßung spricht er das Mädchen „Mit freundlichem Gruß“ an. Er spürt seine Verklemmtheit. „Rot werden, weil man
selbst anwesend ist. Ein Körper voller Angst.“ So beschreibt er sich selbst. „Fröhlichkeit und keine Probleme. Sollte so was möglich sein. Ich kann es mir nicht vorstellen ohne rot zu werden.“
Dieser Unglücksrabe in Frauenkleidern ist gänzlich unfähig, über sein Leben selbst zu entscheiden. Deshalb folgt er ohne Leidenschaft, eher aus Pflicht, der reumütig aus dem Wald zurückgekommenen Selva.
Das Ende
Als letzter kommt der Alte Mann, am Ende seines Lebens, wie alle anderen angelockt durch eine Taube. Er hat verstanden, dass die Tauben-Aktion eine letzte verzweifelte Unternehmung seines zweiten Ichs, des Königsgleichen war. Aber der Alte Mann kommt zu spät. Das Leben hat keinen Sinn mehr, er kann nur noch
sterben.
Der Wald bemächtigt sich des Stadt-Terrains wieder. Hoffnung gibt es nicht mehr. Und die Suche danach auch nicht. Der Raum hat sich in einen Käfig verwandelt. Es bleibt nur noch Totenstille. Und der Wald lacht.
Und Jetzt?
„Striche und Gekritzel“ ist eine Provokation und Aufforderung zugleich. Die Figuren des Stücks sind alle auf der Suche nach dem Sinn im Leben. Da dieses Suchen – außer bei Wolf und Leopold – nicht aus ihnen selbst kommt, sondern auf den Heilsbringer oder eine Lösung von außen wartet, muss es in der Sinnlosigkeit enden.
Das Stück ist eine Aufforderung, sich selber auf die Suche nach dem Sinn im Leben zu machen und nicht von einem Anderen vorgeben zu lassen: Im vollen Bewusstsein der eigenen Existenz den UP AND DOWNS im Leben nicht hoffnungslos ausgeliefert und/oder fremdbestimmt zu sein!