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Komisches Drama in einem Akt - Deutsch von Erica de Bary und Lore Kornell

Regie:
Marcelo Diaz
Bühne und Kostüme:
Gerd Wiener
Musik:
Toni Matheis
Es spielen:
Michael Vogtmann, Helena Lustinger, Silke Nikowski

Die Unterrichtsstunde

Dauer

60 Minuten

Alter

Ab 12 Jahre

Premiere

09. Juni 1994
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Ionesco - Das Theater - Die Unterrichtsstunde

„Ich habe den Eindruck, in einer mehr oder weniger gut eingerichteten Welt von sehr höflichen Menschen zu stehen. Plötzlich geht etwas kaputt, zerreißt, und der ungeheuerliche Charakter der Menschen kommt zum Vorschein, oder das Bühnenbild wird zu etwas völlig Unbekanntem, Mensch und Bild enthüllen so vielleicht ihre wahre Natur. Theater ist vielleicht das: Die Enthüllung von etwas, das verborgen war. Theater ist das Unerwartete, das sich zeigt. Theater ist Überraschung. Für mich muß Theater Offenbarung verborgener Wahrheiten sein. Durch das Theater müssen sie als lebendige Wahrheiten zum Vorschein kommen.“(Ionesco)
Der Stücktitel im Zusammenhang mit unserem Theater könnte irreführend sein. „Die Unterrichtsstunde“ ist kein Stück über Schule. Die Suche nach einer wesentlichen Realität, nach dem Lebenssinn in einer hochindustrialisierten Gesellschaft ist Ionescos Dauerthema. In „Die Unterrichtsstunde“ geht es vor allem um die Möglichkeiten und Grenzen von Kommunikation, von Sprache.

Diese Behauptung mag absurd klingen, für denjenigen, der die Texte des Autors zum erstenmal liest und sie leicht für puren Unsinn halten könnte. Und sogleich ist ein Schlagwort gefallen, das dem Autor zugeordnet wird: Eugène Ionesco gilt als der große alte Mann des absurden Theaters. Er kreiert Stücke, die ganz andere Ausdrucksformen als das bis dahin bekannte und realistische oder naturalistische Theater hatten: ungewöhnlich, unwahrscheinlich, überzeichnet und zugleich wahrer als der Realismus. Mit diesem anderen theatralischen Ausdruck reagierte er auf ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Welt.

Ionesco

Eugène Ionesco, am 13. November 1909 in Slatina (Rumänien) geboren, gab als Geburtsjahr immer 1912 an, um zu den Jüngeren zu gehören. Sein Vater war Rechtsanwalt, die Mutter Französin. Ein Jahr nach seiner Geburt zieht die Familie nach Paris. Als er 16 Jahre alt ist, gehen sie zurück nach Rumänien, was ihn dazu zwingt, eine neue Sprache zu lernen. Er macht zwar rasche Fortschritte, leidet aber an einem „Gefühl wie im Exil“. Zwischen 1930 und 1935 arbeitet er als Literaturkritiker und Mitarbeiter einiger wichtiger rumänischer Zeitschriften.
1938 kehrt er mit einem Stipendium nach Frankreich zurück, um seine Doktorarbeit zu schreiben. („Die Themen Sünde und Tod in der französischen Dichtung seit Baudelaire“). Die Arbeit bleibt unvollendet. Er erfährt während jener Zeit die Schwierigkeit, französisch zu schreiben.
1950 wird „die kahle Sängerin“ uraufgeführt. Die Vorstellung hat fast kein Publikum. Trotzdem schreibt er noch im selben Jahr „Die Unterrichtsstunde“. 
Ionesco stirbt am 28.3.1994 im Alter von 81 Jahren. Am Abend seines Todes spielt man im Pariser Theâtre de la Huchette zum 11944 mal „Die kahle Sängerin“ und „Die Unterrichtsstunde“.

Diaz und Wiener

Der Regisseur Marcelo Diaz ist kein Unbekannter mehr an der SCHAUBURG. Er stammt aus Argentinien, lebt seit 12 Jahren in Deutschland und gehört inzwischen zu den renommierten Regisseuren im Kinder- und Jugendtheater. Seine wichtigsten Arbeiten an der Schauburg waren „Robinson & Crusoe“ und „Iphigenie Königskind“. Da seine künstlerische Suche sich stets darum dreht, Theatertexte in Bilder umzusetzen, ist er der ideale Regisseur für „Die Unterrichtsstunde“.

Gerd Wiener hat bisher an der Schauburg die Ausstattung für „Hier kommt keiner lebend raus“ und „Winterschlaf“ gemacht. Für „Die Unterrichtsstunde“ hat er kein Bühnenbild entworfen, sondern ein bespielbares Gemälde. Über die Art, wie die Schauspieler sein Werk bespielen, war selbst er zu verblüffen.

Die Unterrichtsstunde

Das Stück ist klassisch konstruiert. Es hat ein Anfangsthema, eine klare Entwicklung. Der Autor zeichnet eine steigende Kurve für seine Figuren, die vorsichtig anfängt und in einer Exaltation und dem brutalen Sturz endet. Es beginnt als Boulevardtheater, harmlos und lustig, und endet in der Groteske, in der grausamen Komik böser Kinder.
Die neue Schülerin des Herrn Professor macht den Eindruck eines höflichen, wohlerzogenen, aber lebhaften Mädchens. „Ich habe solche Lust, etwas zu lernen. Auch meine Eltern möchten so gern, daß ich meine Kenntnisse vertiefe. Sie meinen: Allgemeinbildung, auch wenn sie noch so gut ist, genügt heutzutage nicht mehr.“

Die erste Aufgabe löst sie aus dem Stand. Das Addieren klappt wie am Schnürchen. Nur eigenartig, wovor das Dienstmädchen so geheimnisvoll warnt.
Zur völligen Verblüffung des Professors kann die Schülerin drei Milliarden siebenhundertfünfundfünfzig Millionen neunhundertachtundneunzig Tausend zweihunderteinundfünfzig mal fünf Milliarden einhundertzweiundsechzig Millionen dreihundertdreitausend fünfhundertundacht im Kopf multiplizieren. – Aber beim Subtrahieren versagt sie total.
Welche Beispiele der Professor auch immer wählt, welches Anschauungsmaterial er verwendet, ihr Verstand scheint still zu stehen. Verständlich, daß er bei so viel Verstocktheit allmählich die Geduld verliert. Seine Fragen werden rhetorisch, ihre Antworten bockig.
Die Fähigkeit, sich zu verständigen nimmt im Verlauf des Stücks sowohl auf Seiten des Professors als auch bei der Schülerin ab. Sie reagieren völlig mechanisch aufeinander, ohne jedes seelisches Verhalten, schlagen mit Schlagwörtern aufeinander ein, um sich die Mühe des Denkens zu ersparen. Sie sprechen in Schablonen, die sich vom harmlosen Geplapper unversehens in grotesken Blödsinn verwandeln. Das Dienstmädchen hätte etwas zu sagen. Niemand hört ihr zu. Dadurch treiben alle drei Figuren auf ein heilloses Ende zu. Alle Sätze sind zerhackt, Ursache und Wirkung verwechselt. „Von aller Logik und den guten Sitten befreit, reden sich die Figuren in infantiler Ekstase um den verstand.“ (ZEIT vom 8. April 1994).

Absurdes und Traum

Absurdes Theater heißt nicht, daß absurd, also sinnlos ist, was da passiert, sondern dass es das Sinnlose der Welt aufzeigt. Das Gegenüberstellen von Vernünftigem und Unvernünftigem macht das Absurde aus.
„Es gibt verschiedene absurd Dinge oder Umstände. Manchmal nenne ich das absurd, was ich nicht verstehe, weil ich es nicht verstehen kann, oder weil die Sache wesenhaft unverständlich, undurchdringlich, verschlossen ist wie der dicke monolithische Block des Gegebenen, diese Mauer, die mir wie eine massive verfestigte Leere vorkommt, dieser Block des Geheimnisses. Ich nenne auch meine Lage gegenüber dem Geheimnis absurd, den Zustand, daß ich mich vor einer himmelhohen Mauer befinde, die sich bis zu den Grenzen des unendlichen, das heißt zum unbegrenzten Weltall erstreckt, und daß ich trotzdem nicht von dem verzweifelten Versuch ablassen kann, sie zu überklettern oder hindurchzustoßen, obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist. Daß ich diese Lebenslage nicht anerkennen kann, obwohl sie gegeben ist, das ist also absurd. Absurd nenne ich auch den Menschen, der ziellos irrt, das Vergessen des Zieles, den von seinen wesentlichen, transzendentalen Wurzeln abgeschnittenen Menschen. Absurd, in höchstem Maße ungewöhnlich, erscheint mir das Leben an sich.“ (Ionesco)
Gegen Ende der zwanziger Jahre begann im französischen Theater eine revolutionäre Bewegung. Man versuchte, sich vom sogenannten Sprechtheater zu lösen. Einer der wichtigsten Wortführer wurde Antonin Artaud, der mit seinen Theorien vom „Totaltheater“ sämtliche Komponenten des Theaters, wie Ton, Bühnenbild, Musik, Beleuchtung, Bewegung, Wort und Laut zu einer neuen Theatersprache fusionieren wollte. Über das literarische Wort sollte das theatralische Bild, das Zeichen herrschen. Raum und Bewegung, Gegenstände und Requisiten sollten von ihrem rein dekorativen Zweck entbunden und in die neue Theatersprache einbezogen werden. Die Theaterhandlung sollte nicht mehr den Gesetzen der Logik und Kausalität, sondern den Gesetzen des Traumes und der freien Phantasie folgen.

Artaud selbst hat die Verwirklichung seines Theatertraums nicht mehr erlebt. Seine Ideen wurden aber prägend für eine ganze Generation von Dramatikern: Arthur Adamov, Fernando Arrabal, Jean Tardieu, Samuel Beckett und eben auch Eugene Ionesco.
Ihr Theater will nicht mehr politische oder philosophische Weltanschauungen propagieren. Auf der Bühne gehorchen Handlung, Figur und Gegenstand der Phantasie des Autors. Traum und Wirklichkeit können sich mischen.
„Ich messe dem Traum große Bedeutung zu; denn er schenkt mir eine schärfere und durchdringendere Scheu meiner selbst. Träumen, das heißt denken, und zwar auf eine viel tiefere, viel wahrere, viel echtere Art denken; er Traum ist Denken in Bildern. Manchmal ist er außerordentlich enthüllend, grausam. Er ist eine leuchtende Gewißheit.“ (Ionesco)
Die Logik des Traums, der Nacht unterscheidet sich stark von der Logik des Tages. Seelische Vorgänge, die sich am Tage nur mit Hilfe abstrakter Begriffe beschrieben lassen, werden nachts zu konkreten Bildergeschichten. Verfolgungsjagden, in denen man läuft und läuft und läuft und genau in dem Moment, wo man vom Gegner erreicht wird, auf wundersame Weise abheben und fliegen kann, hat jeder schon mitgemacht. Obwohl man sicher ist, daß solch ein Vorgang in der Realität unmöglich ist, wird niemand den Traum als verrückt bezeichnen, sondern ihn als Ausdruck seelischer Vorgänge verstehen. Das absurde Theater bildet nicht mehr Wirklichkeit nach, sondern schafft eine Wirklichkeit.
 

Mechanik und Komik

An Handlung war Ionesco im Theater nicht interessiert. Spannend fand er die Mechanik eines Stückes: Wortspiele oder vielmehr Spiele mit Worten, Situationskomik wechseln sich ab. Schwarzer Humor trägt in seinen Stücken sehr viel dazu bei, die Absurdität, das Ungewöhnliche darzustellen. Er war bestrebt, die Mechanik seiner Stücke zum Überborden zu treiben. In der „Unterrichtsstunde“ geht es ums Überborden der Sprache. Beschleunigung und Überborden sind wichtige Bestandteile der Aufführung.

Die Mechanik hat auch etwas mit dem heutigen Lebensgefühl zu tun, obwohl das Stück in den Fünfzigerjahren entstand. In einer Welt, die immer mechanischer und immer weniger lebendig ist, geprägt von Kommunikationsstörungen, Einsamkeit und Entfremdung, in einer solchen Welt wird das Leben so absurd, wie es der Autor in seinen Stücken beschreibt.

Sprache und Klischee

 

Sein erstes Stück „Die kahle Sängerin“ schrieb der Autor in einer Zeit, als er Englisch lernte. Die Banalität des Lehrbuchs verblüffte ihn so sehr, dass er aus den darin enthaltenen Schablonen seine Inspiration zog. Ionesco hat mit seinen frühen Arbeiten das Vertrauen in die Sprache explodieren lassen.
„Ich bin von Klischees, vom Automatischen, von fixfertigen Wahrheiten ausgegangen. Von einem bestimmten Augenblick an werden diese Wahrheiten ver-rückt. Das hängt damit zusammen, daß die Personen Marionetten sind, daß sie der kleinbürgerlichen Welt jeder Gesellschaft angehören. Sie leben in Schlagwörtern. Im Grunde bräuchte ich nur den Leuten um mich herum beim Sprechen zuzuhören. Sie sprechen, wie man nach der Gleichmachungsmethode spricht. Sie sind selbst Automaten.“

Die Unterrichtsstunde besteht aus Wortkaskaden, die sich schließlich zu musikalischem Nonsens verselbstständigen. Dies ist ganz wörtlich als Stilmittel der Inszenierung zu verstehen.
„Sprache, so zeigt Ionesco, liquidiert sich selbst, und mit sich die Sprechenden. Die Sätze werden immer egozentrischer, sie sind an niemanden mehr adressiert – und in eben diesem Moment, wo sie ihr eigentliche Funktion, die der Verständigung, entgültig aufgeben, werden sie zur Waffe.“ (Ernst Wendt)
 

Kommunikation und Staunen

Ionesco hat nie aufgehört, die Frag nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Und nie war es so arrogant, eine Antwort auf dies Frage zu finden. „Wie könnte ich, da die Welt mir unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen? Ich warte, daß man es mir erklärt.“
Ein Autor glaubt unbedingt an den Ausdruck. Ansonsten wäre es ihm unmöglich, zu schreiben. Er glaubt fest daran, daß Verständigung möglich sei, auch wenn Unehrlichkeit, Unaufmerksamkeit, Begriffsstutzigkeit den Kontakt so häufig verhindern.
„Es gibt eine Stufe der Verständigung zwischen den Menschen: Sie sprechen miteinander, sie verstehen einander. Das ist verblüffend. Warum verstehen wir uns. Ich verstehe die Tatsache, daß wir uns verstehen, nicht mehr. Ich schreibe Theaterstücke, um diesem Gefühl der Verblüffung, des Staunens Ausdruck zu geben.“ (Ionesco)

Das Staunen ist ein interessanter Zustand, in dem eine bestimmte Haltung aufgebrochen ist, in dem eine neue Haltung auftaucht oder auftauchen will oder noch nicht aufgetaucht ist. Diesen Zustand beim Zuschauer hervorzurufen, das hat uns bei der Arbeit an diesem Stück interessiert.
Im Theater geht es darum, mit dem Publikum zusammen etwas zu entdecken. Es geht nicht um Belehrung. „Wir träumen von einer Welt, in der alle Menschen einen hellen Kopf haben, über eine freie Persönlichkeit, über selbstständiges Denken verfügen, ohne von den anderen abgesondert zu sein.“ (Ionesco)
Die Frage, wie man dahinkommt, möchten wir den Zuschauern mit auf den Weg geben. Eine allgemeingültige Antwort haben wir nicht. Wir schließen uns gerne Ionesco an:  „Mein Theater vermittelt keine Botschaft, mein Theater stellt Fragen.“