Haupt-Reiter
Die Räuber
Regie
Alexander May
Bühne
Isabelle Kittnar
Kostüme
Monika Staykova
Es spielen
Vanessa Jeker, Oliver Bürgin, Butz Buse, Markus Campana, Felix Hellmann, Johannes Klama, Ullrich Wittemann, Peter Wolter
Dauer
90 MinutenAlter
Ab 15 JahrenPremiere
10. April 2010Maximilian Moor ist allein erziehender Vater von zwei ungleichen Brüdern. Karl Moor, der gut aussehende Erstgeborene, enthusiastisch und impulsiv, ist Vaters Lieblingssohn. Franz Moor dagegen fühlt sich von der Natur und vom Vater benachteiligt. Zum einen ist er mit seinem Äußeren unzufrieden; zum anderen ist er nur der Zweitgeborene und wird als Solcher vom Vater immer zweitrangig bedacht. Ehrgeizig schmiedet er Pläne, wie er Vater und Bruder aus dem Weg räumen kann. Der Vater durchschaut die Intrige nicht und enterbt den verleumdeten Sohn. Auf der Suche nach Halt flüchtet Karl in eine Räuberexistenz. Zwei Brüder kämpfen auf unterschiedliche Weise um Liebe, Anerkennung und Erbe des Vaters. Der eine aufbegehrend, der andere hinterlistig. Am Ende sind beide verantwortlich für den Untergang der Familie.
Nächste Termine
Urteile und Vorurteile
ICH WILL ALLES UM MICH HER AUSROTTEN, WAS MICH EINSCHRÄNKT, DASS ICH NICHT HERR BIN.
Barbara Frey, künstlerische Direktorin des Züricher Schauspielhauses, nannte diesen Satz von Franz Moor in einem Beitrag zu Schillers 250. Geburtstag einen „banalen Satz, der aber so absolut ist, dass dahinter fast etwas Kindliches hervor scheint. Was nützt dem Menschen das komplizierte Nachsinnen über Freiheit und Toleranz, wenn er die Welt nicht liebt, sich mit den Menschen nicht verbindet und sie deshalb nur beherrschen kann? ... Schillers Stücke sind kompliziert. ... Und man findet in ihnen Sätze von verstörender Schönheit. Es sind mitunter gerade die einfachen, die glasklaren. Sie funkeln wie Edelsteine. In ihnen zeigt sich die ganze Kompliziertheit menschlichen Handelns und Denkens.“
Schüler, die DIE RÄUBER von Friedrich Schiller im Unterricht lesen, reagieren oft anders. Und die Bekundung, dass Schiller selbst fast gleichaltrig war, als er DIE RÄUBER wie einen Befreiungsschlag gegen seinen Schulfrust an der Karlsschule schrieb, hilft selten. Das Internet ist voller Schmähungen gegen Stück und Autor: „Nach 18 Seiten sag ich: LANGWEILIG. Ich hab noch nie ein schlechteres Buch gelesen. Das ganze Ding ist ein einziger Dialog!“ oder „Grausam, zu schwer geschrieben, sinnlose Story.“
In diesen schmalen Verzweiflungs- und Ablehnungs-Zitaten sind wichtige Rezeptionsschwierigkeiten bei klassischen Stoffen formuliert. Wer sich nach 18 Seiten bereits ein abschließend ablehnendes Urteil erlaubt, zeigt, dass er clip-kurze Stories einem komplexen, differenzierten Stoff vorzieht.
Die Bemerkung, man habe „noch nie ein schlechteres Buch gelesen“, legt die Vermutung nahe, dass der Schreiber selten liest und keine Hilfestellung bekommen hat, wie ein Theatertext zu lesen sei. Daher seine Verwunderung: „Das ganze Ding ist ein einziger Dialog!“ In der Behauptung, DIE RÄUBER seien „zu schwer geschrieben“, steckt die Forderung, Literatur müsse sich dem Niveau des Lesers anpassen. Ein Irrtum. Dieser Aufgabe stellen sich private Fernsehsender, sie ist kein Maßstab für Schiller.
Natürlich findet man im Netz auch Gegenstimmen: „Ich finde, dass das Allgemeinbildung ist, zumal sich in den kritischen Tönen durchaus Parallelen zur heutigen Gesellschaft finden lassen.“ Oder „DIE RÄUBER sind aber wirklich ganz gut, wenn man ein bisschen zwischen den Zeilen liest und versucht, die Figuren zu verstehen. Einfach aufgeschlossen und vorurteilsfrei da rangehen, dann kann man eigentlich nicht enttäuscht werden.“
Die Sehnsucht nach Vereinfachung ist nicht nur unter Schülern verbreitet. „Jugendtheater hat die Aufgabe, schwierige Vorlagen für Jugendliche einfacher zu machen, damit diese sie verstehen.“ So formulierte es eine Lehrerin. Wir sind anderer Meinung. Mit der Parole „Kompliziertheit gegen Vereinfachung“ haben wir uns an die Arbeit gemacht. DIE RÄUBER – ein Klassiker für heute. Aber nicht „... Einfach klassisch.“
Vaterliebe und Bruderhass
Maximilian von Moor ist allein erziehender Vater zweier Söhne. Was aus der Gattin und Mutter wurde, erfährt man nicht. Dennoch eine intakte Familie, auf den ersten Blick. Der alte Moor gilt als gütiger Mensch und umsichtiger Verwalter des gräflichen Besitzes.
Als Vater allerdings ist er ein totaler Versager, weil er die Liebe und Wertschätzung, die er seinen Söhnen angedeihen lässt, so ungerecht verteilt, dass eine letztendlich tödliche Rivalität zwischen den Brüdern unvermeidlich ist. Karl durfte auf Vaters Schoß sitzen und ihn in die Backen zwicken, während der zweitgeborene Franz ein „trockener Alltagsmensch“ genannt wurde. Den einen Sohn vergöttert er. Dadurch demütigt er den anderen. Er tut dies unabsichtlich und grundlos. Das ist seine große Tragik.
Im Verlauf der gesamten Kindheit und Jugend treibt der Vater durch seine Anerkennungsverweigerung seinen Sohn Franz in größte seelische Not. Man kann behaupten: Dieser Vater ist mit Blindheit geschlagen. In einem Moment großer Verzweiflung behauptet er, keine Söhne zu haben, obwohl Franz neben ihm steht. Eine größere Kränkung für den Missachteten ist kaum vorstellbar.
Er erkennt den von Franz gefälschten Brief nicht als solchen. Er enterbt Karl, ohne die schriftlichen Vorwürfe auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Er sieht die inneren Nöte von Franz nicht, obwohl dieser bei ihm auf dem Schloss lebt. Wo hat der Mann seine Augen? Durch seine Blindheit schafft er den Freiraum für die ungeheuere Intrige von Franz.
Die Beziehung zu seinen Söhnen ist in seinen Augen geregelt durch überlieferte Gesetze: Der Erstgeborene ist Alleinerbe. Der Zweitgeborene hat das Pech, sich mit einem Pflichtanteil zufrieden geben zu müssen. So war die „Thronfolge“ seit alters geregelt. Dass seine unangepassten Söhne Tradition und Familienstrukturen in Frage stellen, fällt ihm nicht auf.
Die Erhöhung des Lieblingssohnes Karl ist ebenso ungerechtfertigt wie die Herabsetzung von Franz. Warum Karl während seines Studiums auf die schiefe Bahn zu geraten scheint und ob diese Informationen überhaupt der Wahrheit entsprechen, diese Fragen stellt der Vater nicht.
Seine eigene Befindlichkeit, sein Vaterlos, das er für das schwerstmögliche ansieht, stehen für ihn im Zentrum seiner Wahrnehmung. Beide Söhne akzeptieren die althergebrachten Regeln nicht mehr. Sie wollen die Welt auf den Kopf stellen und neu befragen. Ihnen scheint der Vater kein respektiertes Familienoberhaupt.
Wenn man Maximilian von Moor durch diese Brille betrachtet, erkennt man einen Vater, wie man ihn auch heute finden kann.
Karl Moor - Abenteurer und Aussteiger
Er bekommt alles, was er sich wünscht: Die Liebe des Vaters, den größten Teil des Erbes, viele Freunde und Amalia. Karl ist ein Draufgänger, der keine Grenzen zu kennen scheint, begabt und ehrgeizig: Die eigenen Kräfte spüren, Herausforderungen suchen und annehmen, die gesellschaftliche Ordnung über den Haufen werfen.
Das sind die Dinge, die er mit seinen Kommilitonen sucht. Die Gewissheit, der Lieblingssohn des Vaters zu sein, verführt zu Selbstüberschätzung. Obwohl er vom Vermögen des Vaters lebt, bringt sein ausschweifendes Leben Schulden, Verwicklungen mit der Obrigkeit. Der Vater wird ihn schon rausboxen!
Er hat Charisma und Charme. Ein Held will er werden. Und er hat das Zeug dazu. Er stellt wichtige Fragen: Welche Möglichkeiten hat der Einzelne in der Gesellschaft? Hat er Chancen und Macht? Welche Rechte darf er sich nehmen? Aber Karl gibt schnell auf. Er ist mehr Maulheld als Held.
Ein intriganter Brief vom neidischen Bruder, in dem er erfährt, dass der Vater ihn verstoßen hat, wird zum Wendepunkt. Die schmerzhafte und als ungerecht empfundene Zurückweisung erlebt Karl als Verrat. Er flüchtet in die Welt der Räuber und Rächer.
Die ganze Welt besteht für ihn aus Heuchlern, Spießern und Versagern, die es zu bekämpfen gilt. Er sieht sich als Retter der Unterdrückten und verbreitet doch nur Angst und Schrecken. Seine interessanten gesellschaftlichen Fragen sind verloren gegangen im Untergrund. Erst nach extremen Gewalterfahrungen beginnt sein Umdenken. Zu spät.
Räuber - Faszination eines Lebensgefühls
Räuberbanden gelten als Gesellschaft von Außenseitern, als Gegengesellschaft. Ihnen wird gerne politisches Bewusstsein unterstellt, ihre Beutezüge als Umverteilungshandlung definiert. Robin Hood, Mathias Kneissl, der Schinderhannes, sie alle stehen bis heute im Ruf, Anwälte der Entrechteten gewesen zu sein. Häufig war das eine idyllische Vorstellung. In den meisten Fällen entwickelten die Banden ein effizientes System, durch Raub, Diebstahl oder Betrug sich durchs Leben zu schlagen und möglichst lange unentdeckt zu bleiben.
Das Leben als Räuber war nicht romantisch, sondern schwierig. Ständig war man auf der Flucht, drohte der Galgen. Und in größeren Banden herrschten Machtkämpfe statt Räuber-Solidarität. Dennoch hielt sich bei kleinen Leuten und großen Dichtern der Mythos vom „edlen Räuber“. Räuberleben steht bis heute für eine faszinierende Existenz außerhalb von gesellschaftlichen Zwängen, für Freiheit. Sie hat sich gehalten, weil in der Idee vom freien Räuberleben der Mythos von Aufbegehren, Freiheit und Jugend steckt.
Jugend. Das heißt Nein zu Kompromiss, Anpassung und Geschäftemacherei. Die Generation des Sturm und Drang lebte vom Aufbegehren gegen die Ständegesellschaft, die Herrschaft der Kirche, die ungerechten Verhältnisse.
Wenn Gesellschaft sich verändert, dann durch Jugend. Bürgerkinder haben die Interessen des Proletariats vertreten, Gerechtigkeitsempfinden veranlasste im 19. Jahrhundert auch Aristokratenkinder, sich für gleichberechtigte Lebensverhältnisse einzusetzen. Achtundsechziger, Hausbesetzer, RAF, Atomkraftgegner und Umweltschützer – all diese Bewegungen gingen von der Jugend aus.
Und heute? Wofür könnten die Schillerschen Räuber heute stehen? Idealismus ist out. Die Welt ist schlecht, aber der Glaube, dass gemeinsame Auflehnung zu allgemeinen Verbesserungen führen könnte, daran kann die Jugend nicht glauben, weil sie es nicht erlebt hat und Vorbilder fehlen. Ihr Politikverständnis entspringt der Ablehnung von Politiker-Worthülsen und Macht-Zynismus. Engagement ist etwas für Karrieristen oder weltfremde Greenpeace-Veganer. Der persönliche Weg heißt In-Ruhe-Gelassen-Werden.
Man definiert präzise, wie beschissen die Welt ist und erklärt, dass es deswegen gar keinen Sinn mache, sich zu engagieren. Engagement würde das System nur stärken. Die Jugend heute ist nicht unkritisch. Im Gegenteil. Aber sie sieht keine andere Möglichkeit als den Rückzug mit Gleichgesinnten. Man hebt sich dadurch von der Masse ab, dass man Teil einer Clique ist. Gegenwart als blinder Fleck.
Franz Moor - Der übersehene Sohn
Er hadert mit seinem Schicksal. Als Zweitgeborener steht ihm nur ein kleiner Anteil des Erbes zu. Während sein Bruder das Elternhaus längst verlassen hat, lebt er als Nesthocker noch immer beim Vater. Doch dieser Vater sieht ihn nicht. Gefühlte Demütigung und Ausgrenzung prägen seine Kindheit. Er entbehrt alles, was ein junger Mensch braucht: Wärme, emotionale Zuneigung, Zuspruch, Umarmung. Nicht nur vom Vater, sondern auch von der Natur fühlt er sich schlecht behandelt. Sein Äußeres hält er für abstoßend. Eine zusätzliche Kränkung für seine verletzte Seele. Er ist ein übersehener Sohn.
Was weiß man von ihm? Er wohnt zuhause und hat einen älteren Bruder. Und sonst? Sonst nichts. Keine Freunde. Keine Freundin. Seine emotionalen Defizite sind immens. Im Laufe der Zeit hat sich Neid in Hass verwandelt. Er fälscht einen Brief, um den Bruder beim Vater zu verunglimpfen. Dies ist der erste Schritt, danach gibt es kein Zurück mehr. Er erkennt, dass er die Anerkennung, um die er buhlt, nicht bekommen wird. Deshalb vernichtet er diejenigen, die ihn übersehen: Bruder, Vater, Amalia. Er nimmt sein Leben in die Hand, macht sich zum Erstgeborenen.
Heiße Verzweiflung, kalte Wut
Man kann sagen: Im Zustand absoluter Gewaltbereitschaft und Unzurechnungsfähigkeit läuft Franz Amok. Sein soziales Umfeld – der Vater, der Diener, Amalia – erkennen den Jagdmodus nicht. Das führt zur Katastrophe.
Es gibt eine Lebensphase, in der Jugendliche für Eltern unerreichbar sind, in der sie abtauchen in Innenwelten, von denen Eltern nichts ahnen. Sie demonstrieren Coolness, um unangreifbar zu sein, obwohl sie vielleicht dringend in den Arm genommen werden müssten. Diese Ablösungsphase ist normal.
Wenn Erwachsene allerdings jahrelang nicht wahrnehmen, was ihre Kinder umtreibt, ob sie glücklich sind, ob sie Freunde haben, Ideen für ihre Zukunft und einen Platz in der Welt finden, dann ist nicht auszuschließen, dass sie durch ein Netz fallen. Obwohl sie keine Hilferufe aussenden, brauchen junge Menschen Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Soziale Beschämung wird immer als Schmerz erlebt. Wer erfahren muss, dass er nirgends dazugehören kann, entwickelt Ängste und Einsamkeit, die sich bis zur Unerträglichkeit steigert.
Franz und Karl. „Der eine rächt sich an der Welt, von der er zuviel erwartet hat; der andere wütet in einer Welt, von der er nichts hält, und die ihn deshalb zu nichts verpflichtet. Zwei Extremisten: des entfesselten Idealismus der eine, des hemmungslosen Materialismus der andere. ...
Der Unterschied zwischen Karl und Franz ist nur, dass jener in die Desillusionierung stürzt und dieser bei der Desillusionierung beginnt; der eine erleidet den Nihilismus, der andere macht ein moralisches Prinzip daraus. ... Beide sind vom Furor der Rache getrieben, der eine, weil ihm der Glaube an die Weltordnung zerbrochen ist; der andere, weil er diesen Glauben nie geteilt hat. In diesem sinnlosen Universum rast der eine mit heißer Verzweiflung, der andere mit kalter Wut.“ (Rüdiger Safranski; "Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus")