Sturzhang

Diesen Begriff gibt es nur bei uns in der Dramaturgie. Er entstand aus einer wahren Geschichte, die uns ein befreundeter Sportlehrer berichtete, der nach zehnjährigem Auslandaufenthalt wieder im deutschen Schuldienst arbeitet. Sturzhang ist eine Übung beim Geräteturnen, wobei der Sportler sich kopfüber in den Ringen oder am Barren hält. Dies hat er mit seinen Schülern trainiert. Dabei geschah ein Unfall. Einer der Schüler ließ einfach los, als er kopfüber in den Ringen hing. Als der Sportlehrer von dem Unglück berichtete, wiesen die Kollegen ihn zurecht, dass man diese Übung seit Jahren nicht mehr mit Kindern übe, um derartige Unfälle zu vermeiden. 
Ganz bestimmt kann jedes Kind ohne diese Geräteübung glücklich werden. Trotzdem tauchen übergeordnete Fragen auf: Wie kommt es, dass Kinder eine uralte Turnübung nicht mehr ausführen können, ohne in Gefahr zu geraten? Wie kann es sein, dass einem Kind genügend Instinkt fehlt, um ein freiwilliges Auf-den-Kopf-Fallen zu verhindern? Ist es richtig, wenn Lehrer eine solche Übung vorsichtshalber aus dem Trainingsrepertoire streichen? 

Klar, man vermeidet viele Unannehmlichkeiten, aber gleichzeitig verhindert man, dass Kinder Erfahrungen machen können, mit dem eigenen Körper, dem eigenen Leistungsvermögen und der Schwerkraft. 
Ihnen dies zu ermöglichen, ist sinnvoll und zugleich anstrengend. In diesem Sinn bezeichnen wir uns in unseren Dramaturgiesitzungen als Theater Sturzhang. Wir wissen, welche Themen und ästhetischen Mittel ohne Herausforderung konsumierbar sind. Aber wir wollen mehr als den Purzelbaum. Wir suchen Geschichten, Erzählungen, Theaterformen mit Risiko. Dem Risiko der Überforderung, der Konfrontation, des utopischen Vorgriffs und des unerwarteten Glücks.