Haupt-Reiter
Das Mädchen am Ende der Strasse
Regie:
Peter Ender
Bühne und Kostüme:
Katja Salzbrenner
Es spielen:
Jessica Higgins, Thorsten Krohn, Berit Menze, Armin Schlagwein, Florian Stadler
Was ist eigentlich los mit diesem Mädchen Rynn, das mit seinem Vater ein abgele- genes Haus bewohnt? Er soll ein berühmter Dichter sein. Aber warum hat ihn noch nie jemand im Dorf gesehen? Warum geht Rynn nicht in die Schule? Stimmt etwas nicht in diesem Haus? Ein Thriller über ein Mädchen, das ein großes Geheimnis umgibt und das ungewöhnlich zielstrebig ihre Vorstellungen vom eigenen Leben durchsetzt. Vielleicht gibt es gute Gründe dafür.
Nächste Termine
Einladung des Autors
"Rynn Jacobs trat so geheimnisvoll in mein Leben, wie es ihrem Wesen entspricht - durch ein Theaterstück, das ich schrieb. Zu jener Zeit war ich ein amerikanischer Autor, der in London lebte. Mehrere Theaterproduzenten schufen Rynn beinahe ein Zuhause in einem ihrer Westend-Theater - beinahe. Während dieser Zeit las mein französischer Verleger das Stück, verliebte sich in Rynn und drängte mich, das Thema in eine Erzählung zu verwandeln.
So erlebte die Öffentlichkeit Rynns erstes Heim nicht als Theater, sondern als Roman, der schnell ein internationaler Erfolg wurde. Wenige Monate nach dem Erscheinen verließ Rynn das Buch, um sich in einem Film wiederzufinden.
Aber Rynn war noch nicht zu Hause. Nicht ganz. Das hartnäckige kleine Mädchen war auf der Suche nach seinem Heim, das es sich von Anfang an gewählt hatte: dem Theater.
Kommen Sie und lernen Sie Rynn kennen. Genießen Sie eine schöne heiße Tasse Earl-Grey Tea und ein Mandelplätzchen mit ihr. Aber seien Sie vorsichtig. Versuchen Sie nicht, in den Keller zu gehen oder zu viele Fragen zu stellen." (Laird Koenig)
"Es bereitet schon Genuss, Menschen handelnd zu sehen, Folgen mitzuerleben. Die Menschen des Kriminalromans hinterlassen nicht nur Spuren in den Seelen ihrer Mitmenschen, sondern auch in ihren Körpern und auch in der Gartenerde vor dem Bibliothekszimmer. Der literarische Roman und das wirkliche Leben stehen hier auf der einen Seite, der Kriminalroman, ein besonderer Ausschnitt des wirklichen Lebens, auf der andern. Der Mensch im wirklichen Leben findet selten, dass er Spuren hinterlässt, zumindest solange er nicht kriminell wird und die Polizei diese Spuren aufstöbert." (Aus: Bertolt Brecht, "Über die Popularität des Kriminalromans")
Frank Hallet & seine Mutter
Frank Hallet lebt in diesem ruhigen Dorf am Meer in der Nähe von New York. Dort steht das Haus, das Rynn Jacobs und ihr Vater seit kurzem bewohnen. Möglich wurde das durch Franks Mutter. Mrs. Hallet ist Maklerin und eine Frau mit klaren Ansichten. Sie hasst New York, weil es dort zu viele Ausländer gibt. Sie findet es selbstverständlich, in fremden Wohnungen zu bestimmen, wie die Möbel zu stehen haben und sieht nichts Unkorrektes darin, ihre Einmachgläser im Keller der Jacobs zu verstauen und deren Obst zu ernten.
Im Dorf ist sie die graue Eminenz, und bekleidet selbstverständlich ehrenamtliche Positionen. Sie ist im Vorstand der Schulbehörde. Das ist deshalb unangenehm, weil Rynn die Schule nicht besucht. Warum sie das nicht tut, ist eins ihrer Geheimnisse. Aber Geheimnisse anderer Leute kann Frau Hallet unter keinen Umständen ertragen.
Unter einer solchen Mutter hat ein Sohn kein einfaches Leben. Sie bestimmt alles, sie bestimmt ihn. Und zwar schon sein ganzes Leben lang. Das hinterlässt Deformationen. "Wenn meine Mutter etwas sagt, ist es automatisch wahr. Es hat einfach wahr zu sein." sagt er einmal. Mrs. Hallet rät Rynn, Frank nicht mehr ins Haus zu lassen, wenn Rynn allein ist. Warum tut sie das? Rynn hat einen unschönen Verdacht und der Polizist des Dorfes macht Andeutungen. Offensichtlich gelingt es Mrs. Hallet nicht, alle Gerüchte aus der Welt zu schaffen.
"Dieses Beobachtungen-Anstellen, daraus Schlüsse-Ziehen und damit zu Entschlüssen-Kommen gewährt uns allerhand Befriedigung schon deshalb, weil der Alltag uns einen so effektiven Verlauf des Denkprozesses selten gestattet und sich für gewöhnlich viele Hindernisse zwischen Beobachtung und Schlussfolgerung sowie zwischen Schlussfolgerung und Entschluss einschalten." (Aus: Bertolt Brecht, "Über die Popularität des Kriminalromans")
Mario & seine Familie
Mario kommt aus einer kindereichen Familie und ist italienischer Abstammung. Sein Vater hat die Reparaturwerkstatt im Dorf. Dort ruft Rynn an, als ein Auto zum Bahnhof gefahren werden soll. Mario kommt vorbei, will eigentlich nur den Schlüssel holen, doch dann entwickeln sich ein Gespräch und mehr.
Mario ist eines von zwölf Kindern. Ohne Geschwister zu leben ist für ihn unvorstellbar, weil man mit Geschwistern nie allein ist. Mario ist dennoch in gewisser Weise allein, weil er gehbehindert ist. Er hatte Kinderlähmung und behauptet, das sei passiert, weil seine Mutter mit den vielen Kindern den Überblick verloren habe und nicht mehr wusste, wer schon geimpft sei und wer nicht. Wenn seine Brüder samstagnachmittags beim Fußballspielen sind, dann gibt er Zaubervorstellungen für reiche Kinder.
Als er zum ersten Mal bei Rynn auftaucht, merkt er schnell, dass etwas nicht stimmt. Die ganze Geschichte, warum das mysteriöse Auto zum Bahnhof gebracht werden soll, ist von Anfang bis Ende gelogen. Welches Motiv hat Rynn? Was führt sie im Schilde? Er will dahinter kommen, was mit diesem einsamen Mädchen los ist.
Irgendetwas stimmt nicht in diesem Haus: Einerseits ist es herrlich, ungestört mit diesem besonderen Mädchen zusammen zu sein, das ein Geheimnis umgibt. Andererseits ist vieles in diesem Haus sehr ungewöhnlich.
Das findet auch Ron Miglioriti, der Polizist des Dorfes und Marios Onkel. Er ist auf der Suche nach Mrs. Hallet. Die letzte, mit der sie gesprochen hat, war Rynn, und dieses Gespräch drehte sich um Einmachgläser aus dem Keller ...
"Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. Aus Katastrophen haben wir die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu erschließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die „inside story“ erschließen. Wir fühlen schon beim Lesen der Zeitungen (aber auch der Rechnungen, Entlassungsbriefe, Gestellungsbefehle und so weiter), dass irgendwer irgendwas gemacht haben muss, damit die offenbare Katastrophe eintrat. Was also hat wer gemacht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse." (Aus: Bertolt Brecht, "Über die Popularität des Kriminalromans")
Rynn & ihr Vater
Die beiden stammen aus England und haben erst vor einigen Wochen das Haus am Ende der Straße bezogen. Ungewöhnlich dabei war, dass die Miete für drei Jahre im Voraus bezahlt wurde.
Keiner kann sich daran erinnern, den Vater danach noch einmal gesehen zu haben. Er ist Dichter und Übersetzer von Lyrik und braucht absolute Ruhe zum Arbeiten. Seine Tochter Rynn hat er alleine großgezogen, weil Rynns Mutter eine schwierige Frau mit Alkoholproblemen war. Eine Tochter großzuziehen ist aber nicht so einfach für einen Intellektuellen, wenn man keine Verwandten hat und einen Bekanntenkreis, der ausschließlich aus verrückten Dichtern besteht. Es könnte sein, dass der Vater seine Tochter überfordert hat, als er seine eigenen Lebenskriterien ungeprüft auf sie übertrug, sie, die fast noch ein Kind war. "Gib nie auf und spiele nie ihr Spiel. Tu, was du musst. Bekämpfe sie, wenn du musst. Aber überlebe." rät er ihr. Das sind provokante und zugleich lebenskluge Ratschläge.
Aber ein junger Mensch braucht Begleitung und Hilfestellung, um deren Umsetzung zu lernen. Für derart radikale Anleitungen muss man erwachsene Verantwortung, sehr viel Menschenkenntnis und Selbsteinschätzung mitbringen, die man als junger Mensch noch gar nicht haben kann, weil man sie erst noch erlernen muss. Und Rynn ist viel zu sehr auf sich allein gestellt. Die Sache wird auch dadurch nicht leichter, dass sie in ihrem Vater den einzigen Menschen sieht, dem sie vertrauen kann. Deshalb fragt sie nicht nach der Wirkung des weißen Pulvers, das er ihr überlässt. Sie wendet es an, als sie es braucht, weil sie sich alles zutraut, was ihr Vater ihr zutraut. Und das ist zu viel.
Laird Koenig: Der Autor
Geboren in Seattle, Washington. Studium in Washington, Kalifornien und New York. Er schreibt Drehbücher, Romane und Theaterstücke. Gleich sein erster Roman „The Children are watching“ wurde mit dem französischen Grand Prix Policière ausgezeichnet. „Das Mädchen am Ende der Straße“ war sein zweiter Roman, der 1974 erschien, in 15 Sprachen übersetzt und ein Bestseller wurde. Die Verfilmung des Romans 1976 mit Jodie Foster und Martin Sheen wurde von der Academy of Science Fiction Fantasy and Horror ausgezeichnet.
Wir danken Klaus und Janne Weinzierl für die Suche nach dem Gedicht 258 von Emily Dickinson und dessen Neuübersetzung.