Tanz aus der Reihe

Regie:
Marcelo Diaz
Bühnenbild und Kostüme:
Gerd Wiener
Musik:
Toni Matheis
Es spielen:
Sabine Zeininger, Dirk Laasch, Corinna Beilharz, Michael VogtmannErcan Karacayli, Silke NikowskiChristoph Wettstein

Tanz aus der Reihe

Dauer

60 Minuten

Alter

Ab 9 Jahren

Premiere

16. März 1995
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Wir sind nicht von schlechten Eltern

Ein Mann betritt den Raum. Es ist so dunkel, daß man nur Schemenhaftes erkennen kann. Wo sind wir? Der Mann weiß es offensichtlich auch nicht. Er schaut sich ängstlich und vorsichtig um: Staub, Spinnweben, ein Klavier. Bilderrahmen, ein alter Fernseher, ein totes Huhn. Ein Dachboden? Ein alter Ballsaal? Eine Ausgrabungsstätte? Der Raum hat etwas Vornehmes und zugleich Trostloses, wie die Ruine eines Schlosses, das früher einmal sehr prächtig war; ein Phantasieraum, ein Raum für Wünsche; ein Ort an dem sich das Kindsein und das Erinnern des Erwachsenen an die eigene Kindheit treffen.
Darum wird sich die Geschichte drehen. Ein Butler kommt zurück an den Ort, den er seit seiner Kindheit nicht mehr besucht hat. Erinnerungen erscheinen, Episoden aus der Zeit, als er selbst ein Kind war – längst vergessen geglaubt – tauchen auf und wollen sich nicht mehr beiseite schieben lassen.
Das ist ganz wörtlich zu verstehen. Die Kindheitsgeschichten des erwachsenen Mannes werden nicht erzählt durch Rückblenden-Monologe; diese Erinnerungen treten vielmehr leibhaftig auf, werden dargestellt von sechs Schauspielern und Schauspielerinnen. 

Die Figuren können dem Zuschauer bekannt vorkommen. Da gibt es eine Pauline, die trotz schlechter Erfahrung nicht aufhören kann zu zündeln; Hans träumt erfinderisch davon, das Fliegen zu erlernen und auch die wilde Friederike, die sehr eigenwillig mit einem Tier umgeht, macht mit. Hundekopp ist immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Deshalb hat er stets eine Schüssel bei sich. Regenpfeifer macht seinem Namen alle Ehre: Er kann es wirklich regnen lassen. Damit erntet er sogar die Bewunderung von Sonnenschein, die eigentlich findet, daß alle Augen auf sie gerichtet sein müssen. Um dies zu erreichen, ist ihre Phantasie grenzenlos.
Wer dabei an Figuren aus dem „Struwwelpeter“ denkt, tut dies nicht zufällig. Das berühmte Kinderbuch ist Auslöser für die Kindheitserinnerungen des Butlers.

Am Anfang waren die Bilder

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Rückblicke, Erinnerungen verlaufen niemals linear, sondern sprunghaft. Unberechenbar werden sie ausgelöst, durch einen wiedergefundenen Gegenstand, durch Geräusche, Gerüche oder lange vermißte Gefühle. Deshalb hat die Vorstellung „Tanz aus der Reihe“ keine lineare Geschichte. Erzählt wird vielmehr in assoziativen Bildern, die dem Publikum ermöglichen, eigene Geschichten zu montieren. Es gibt keine Chronologie der Ereignisse. Die Vorstellung springt immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück. Ein Bild-Reigen von Kindheit und Erwachsen-Werden entfaltet sich, durch den der Butler führt. Der Autor selbst betrachtet sein Stück als Spielanlaß, woran zunächst die Theatermacher und anschließend die Zuschauer ihre Phantasie entfalten sollen. Deshalb gibt es keine zur Identifikation auffordernde Hauptfigur. Der Reiz beim Zuschauen liegt vielmehr in der Wiedererkennung von Verhaltensmustern.
Wer von Kindern erzählt, kann die Erwachsenen nicht ausschließen. Gelenkt durch die Erinnerungen des Butlers übernehmen die Schauspieler mal die Funktion einer Kinderfigur, in einer nächsten Szene können sie in die Rolle einer Mutter und eines Vaters schlüpfen. Und das alles ohne Kostümwechsel oder einem neuen Hut auf dem Kopf, sondern einfach dadurch, daß der Ausdruck der Schauspieler sich ändert. Begegnungen, Enttäuschungen, Ängste, Freude, Sehnsüchte – kurz ein Kosmos von Gefühlen entsteht nicht so sehr aus der Sprache, sondern in einem Spielraum, in dem die Schauspieler Geschichtenerzähler sind.

Wenn ich mit dir rede

Die Texte sind sehr sparsam. Das Stück beschreibt Erziehungsrituale. Da muß man nicht viele Worte machen. Was gesagt wird, ist bekannt. Der ganze Kanon von "Iß deinen Teller leer" bis "Nimm den Daumen aus dem Mund" und "Tanz nicht aus der Reihe" wird bekanntermaßen nicht dadurch, daß er gesagt wird, sondern wie und wie oft dies geschieht. Gegen solch vernünftige Ratschläge wehrt man sich am besten nicht mit Worten, sondern durch bestimmte Haltungen. Weghören, Dummstellen, Wortklauben, Aus-Trotz-Immer-Wieder-Machen haben alle Eltern der Welt schon zur Verzweiflung gebracht.
Wenn die Kinder unter sich sind, dann verständigen sie sich sowieso ganz anders. Um zu zeigen, wer der größte Held ist, braucht man keine Worte, sondern vielleicht einen Kaugummi, mit dem man phantastische Blasen machen kann.
Diese Inszenierung spielt mit der Sprache. Manchmal werden die Worte leicht wie Seifenblasen benützt, artistisch wie Jonglierbälle, und manchmal sausen sie nieder wie eine Dressurpeitsche.

In ihrer Laudatio anläßlich der Verleihung des Brüder-Grimm-Preises an den Autor sagte die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß über die Sprache in diesem Stück: "Gerd Knappes Sprache ist eine gestisch reiche Sprache. Unter den so unscheinbar daherkommenden Sätzen lauert eine Welt von Beziehungen, Berührungen, die gesucht werden, die gelingen, die misslingen, die abbrechen. Und gerade das macht diese Sprache zu einer genuinen Theatersprache."
Mit den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache hat sich Heinrich Hoffmann, der Autor des „Struwwelpeter“ beschäftigt. Er hat sich immer dagegen verwahrt, daß man sein Buch als angsteinjagendes gesehen hat. "Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es. Mit moralischen Vorschriften zumal weiß es gar nichts anzufangen: Die Mahnung. Sei Reinlich! Sei vorsichtig mit dem Feuerzeug und laß es liegen! Sei folgsam – das alles sind leere Worte für das Kind. Aber das...Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt."

Tanz aus der Reihe

Die einzelnen Erinnerungs-Episoden berichten von archetypischen Konfliktsituationen und Glücksmomenten, die wahrscheinlich jeder kennt: Von der Unbarmherzigkeit des Alleinseins, und davon, daß zuviel Aufmerksamkeit auch nicht angenehm ist. Wie man sich unsterblich blamiert und trotzdem nicht im Erdboden versinkt. Wie man unerwartet einen Freund findet. Wie man tausend Tricks erfindet, den ungeliebten Spinat nicht essen zu müssen und doch den Tischsitten in der Familie nicht entkommen kann. Wie man sich Schutz wünscht und stattdessen erst eine grausame Geschichte von einem Schneider mit Schere erzählt bekommt und dann auch noch alleingelassen wird. Aus vielen kleinen Szenen entstehen Bilder voll skurriler Poesie, Bilder, die sich nicht erklären lassen, sondern aufordern zum Assoziieren.

Es ist nicht Absicht dieser Aufführung, die Kinderwelt in den Himmel zu loben. Das Stück vermeidet jede einseitige Parteinahme.
Im Untertitel hat der Autor sein Stück ein „ein Spiel für Clowns“ genannt. Daran haben wir uns orientiert. Nicht mit Pappnasen und weißen Gesichtern, sondern mit Ausstellen der Unversöhnlichkeit von Interessen zwischen den Generationen. Wie komisch das sein kann, hat Federico Fellini in seinen Gedanken über das Prinzip des weißen Clowns und des Augusts unnachahmlich genau beschrieben:
"Der Clown verkörpert den irrationalen Aspekt des Menschen, die phantastische Kreatur, die Instinktkomponente, das was in jedem von uns gegen die höhere Ordnung rebelliert. ...
Wenn ich Clown sage, denke ich an den August; freilich sind die beiden Figuren der weiße Clown und der August. Der erste ist Eleganz, Grazie und Harmonie, Intelligenz, Klarheit, alles, was sich moralisch als ideale, einziggültige Lage, als indiskutierbare Gottheit anbietet. Und da erscheint sogleich der negative Aspekt dieser Angelegenheit. Denn so wird der weiße Clown zu Mama, zu Papa, dem Meister, dem Künstler, dem Schönen, kurz, zu dem, was man tun sollte.
Der August aber, der von dieser Perfektion fasziniert wäre, wenn sie nicht so deutlich zur Schau getragen würde, der revoltiert. Er sieht, daß der Flitter leuchtet, doch macht die Aufgeblasenheit, mit der er sich darstellt, den weißen Clown unerreichbar.
Der August ist das Kind, das unter sich kackt, er rebelliert gegen diese Perfektion, besäuft sich, wälzt sich auf dem Boden und belebt daher den Widerspruch.
Es ist der Kampf zwischen dem stolzen Kult der Vernunft, der zum anmaßenden Kult des Ästhetizismus wird, und dem Instinkt, der Freiheit des Triebes.
Der weiße Clown und der August – es sind Lehrerin und Kind, Mutter und Lausbub, man könnte auch sagen: Der Engel mit dem feurigen Schwert und der Sünder.
Es sind die beiden Haltungen des Menschen, der Drang nach oben und der Drang nach unten, getrennt, geschieden."

 

Aus dem Rahmen fallen

Das Bühnenbild wird bestimmt von Rahmen. Bilderrahmen, bespannte und leere Rahmen, Spiegel, Torbögen, Portalrahmen. Niemals weiß man, wann eine Figur in den Rahmen tritt oder aus demselben fällt. Sogar der Handlung haben wir einen Rahmen gegeben – in der Person des Butlers. Das Spiel im Rahmen ist kein Zufall: Erziehung setzt oft Rahmen. Sitten, Pflichten, Erwachsenwerden,

all das hat mit Rahmen zu tun, in die ein Mensch gezwängt wird, und die man als Kind häufig sprengt – meist unbewusst, und manchmal ganz gezielt, wenn sie als willkürlich empfunden werden. Wer die Welt entdecken will, muß gegen die Regeln rebellieren. Und umgekehrt gilt: Wenn keine Grenzen gesteckt werden, gibt es keine Möglichkeit der Rebellion, kann man die Welt nicht entdecken.

Struwwelpeter

Tanz aus der Reihe“ wurde als Auftragsproduktion für unser Theater geschrieben. Unter dem ursprünglichen Titel „Struwwelpeter“ hat es noch unveröffentlicht 1993 den höchsten Kinder- und Jugendtheaterpreis, den Gebrüder-Grimm-Preis des Landes Berlin erhalten.
Wir haben den von Gerd Knappe gewählten Titel verändert, weil wir ihn im Zusammenhang mit unserer Aufführung für verwirrend halten. Der Autor hat sich inspirieren lassen durch das berühmte Kinderbuch, er erzählt es aber nicht nach. Seine Assoziationen zu den Bildern und den Geschichten sind ganz eigenständig und entwickeln sich völlig anders als in der bekannten Vorlage. Dieser Hinweis scheint uns sehr wichtig, um falsche Erwartungen und daraus resultierende Enttäuschungen zu vermeiden.

Viele Jahre wurde der „Struwwelpeter“ in den Kanon „schwarze Pädagogik“ eingereiht. Dabei steckt in jeder Geschichte eine kleine persönliche Rebellion. Der große Erfolg des Buches erklärt sich durch die Genauigkeit und Sorgfalt, mit der Heinrich Hoffmann Konflikte aufzeigt, die Kinder mit Erwachsenen und auch untereinander haben.
"Das Stück ist für solche Kinder geschrieben, sie mögen älter oder jünger, klein oder groß sein: Warten auf eine Berührung, träumen so vor sich hin, halten viel aus und haben von irgendwoher eine Erinnerung an ein besseres Leben. Es ist ein Reigen voller blauer Wunder, nicht wie im Leben, aber wie im Theater" schrieb Ulrike Haß in ihrer Laudatio.
 

Gerd Knappe

Gerd Knappe wurde 1957 in Lichtenberg geboren. Er absolvierte ein Lehre in den DEFA-Kopierwerken, arbeitete Ende der Siebzigerjahre als Kamera- und Regieassistent, danach Regiestudium an der Filmhochschule in Babelsberg. Broterwerb als Magazinverwalter und Heizer.

Arbeitet als freischaffender Autor seit 1985 für verschiedene Theater. Für sein Gesamtwerk erhielt er 1991 den Münchner Jugend-Dramatiker Förderpreis. 1993 erhielt er den Brüder Grimm Preis des Landes Berlin für „Struwwelpeter“.

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