Paranoid Park

nach dem Roman von Blake Nelson
aus dem Amerikanischen von Heike Brandt in der Bearbeitung von Beat Fäh
© Copyright 2006 by Blake Nelson.
Published by Arrangement with Blake Nelson.
Regie
Beat Fäh
Ausstattung
Michael Kraus
Es spielen
Josephine Ehlert, Lucca Züchner, Markus Campana, Wolfgang Cerny, Johannes Klama, Peter Wolter
Musiker
Taison Heiß

Dauer

105 Minuten

Alter

Ab 14 Jahren

Premiere

28. Juni 2011

Das Unglück beginnt im Paranoid Park, einem illegalen Skater-Park, wo sich neben den besten Skatern auch die Straßenkids treffen. Einige schlagen vor, auf einen Güterzug aufzuspringen, um schneller zum nächsten Supermarkt zu kommen. Er hat von Beginn an ein mulmiges Gefühl. Dann läuft die ganze Sache aus dem Ruder und ein Mensch stirbt. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht nicht die Aufklärung eines Kriminalfalles, sondern das Lebensgefühl eines Jugendlichen, der niemanden hat, bei dem er sein Herz ausschütten kann.

Nächste Termine

Jugend

Jugend ist die aufregendste Lebensphase: Ablösung von den Eltern, die Entscheidung, wer man sein will, welche Musik man hören will, welcher Community man sich zugehörig fühlt, erste Liebe. Ob man souveräne Körperbeherrschung beim Boarden cool und akrobatisch im Stadtraum zeigt 
oder Unwohlsein im eigenen Körper sich in Oversize-Klamotten und ganz in Black ausdrücken, für jedes Temperament und Lebensgefühl finden sich die entsprechenden Insignien. Es ist die Zeit, in der man zum ersten Mal selbst die Weichen stellt. Jugend ist das große Fest vor dem Erwachsensein. Was aber passiert, wenn man in dieser Phase eine traumatische Erfahrung machen muss? Wenn Schock, Schweigen, Schuldgefühle, Schicksal alle anderen Wahrnehmungen niederwalzen? Davon erzählt PARANOID PARK auf atemberaubende Weise.

Das Leben fühlt sich gut an

Der 17. September wird zu seinem Schicksalstag. Bis zu diesem Datum ist er ein ganz normaler Jugendlicher. In der vierten Klasse hatte er eine folgenlose Prügelei mit Howie Zimmermann. In der Sechsten nervte ihn Macy McLaughlin mit ihrer Verliebtheit. In der Neunten schmiss er einen Einkaufswagen in den Fluss, und beim Skaten krachte er gegen den Rückspiegel eines Autos, sodass der abbrach. Vor zwei Jahren war er mit seinem Vater zum letzten Mal angeln gewesen.

Sein bester Freund Jared ist ein bisschen älter und der beste Skater der Schule. Von ihm kann er viel lernen. Die Freundschaft macht ihn stolz. Anfang der Sommerferien hatte er was mit Jennifer Hasselbach. Ein bisschen. Aber er merkt schnell, dass er nicht wirklich begeistert ist von ihr, denn sie versteht nichts vom Skaten.

Er lebt in der ganz normalen Welt zwischen dem Ende der Kindheit und dem Erwachsensein. Ein Grundgefühl von Kraft, Neugier und Welteroberung prägt ihn. Es ist die Lebensphase, in der man sich alles zutraut. Das Leben verspricht eine Erfolgsgeschichte zu werden.

Jugend-Schutz

Erwachsene müssten eigentlich erkennen, dass dieses Alter auch Gefahren mit sich bringen kann. Jugendliche brauchen in dieser Lebensphase gleichermaßen Ermutigung wie auch Schutz vor ihrem eigenen unbesonnenen Verhalten. Das hat nichts mit Leichtsinn, Impulsivität oder falschen Einflüssen zu tun. Der Körper eines Heranwachsenden durchläuft starke Veränderungen, und zwar nicht nur durch hormonelle Einflüsse. Inzwischen weiß man, dass auch das Gehirn in der Adoleszenz einen außerordentlichen Wachstumsschub erfährt, wodurch das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Hirnregionen nicht mehr verlässlich funktioniert. Dadurch kann es sein, dass der Bereich, der auf riskante Verhaltensweisen zusteuert, aktiver ist als derjenige, der zum Nachdenken über die Konsequenzen der Handlung auffordert. Auf diese Weise kann ganz schnell eine gefährliche Situation entstehen.

Paranoid Park

Für die Hauptfigur werden die Sommerferien zur Katastrophe. Seine Eltern streiten sich ununterbrochen und sprechen von Trennung. Erst will seine Mutter ausziehen, und dann zieht der Vater zum Onkel. Sein kleiner Bruder kotzt andauernd, weil er den Stress nicht aushält. Der wichtigste Fluchtpunkt wird für ihn der Paranoid Park, ein illegaler Street-Park, wo sich die besten Skater treffen. Aber auch die Straßenkids. Der Paranoid Park wird sein Trost-Pflaster, weil die Typen, die dort abhängen, garantiert noch schlimmer dran sind als er. Manche von denen hatten wahrscheinlich ihr ganzes Leben auf der Straße verbracht. Wilde Gerüchte ranken um diesen Park, daher der Name. 

Am 17. September hat er sich mit Jared dort zum Skaten verabredet. Aber Jared will plötzlich das Wochenende mit einer College-Studentin verbringen und lässt ihn hängen. Deshalb trifft er auf Schramme und das Mädchen Paisley mit dem höhlenmenschenmäßigen Gesicht. Schramme ist kein besonders guter Skater, aber er hat Style. Als Bier- und Zigaretten-Nachschub besorgt werden muss, überredet Schramme ihn, auf den Zehn-Uhr-Zwanzig-Zug aufzuspringen und bis zum nächsten Supermarkt zu fahren.  

Er macht das zum ersten Mal. Er stellt sich vor, wie er seinen Freunden davon erzählen würde. Er lehnt sich so weit wie möglich in den Fahrtwind. 
Dann sieht er das Auto eines privaten Sicherheitsdienstes. Neben dem Auto steht ein Mann in Uniform. Er trägt schwarze Handschuhe und hält einen schwarzen Schlagstock in der Hand. Er prügelt auf die beiden ein, sie wehren sich. Aus einiger Entfernung sehen sie, wie der Wachmann zu Boden fällt und unter den fahrenden Zug gerät. Unvermittelt liegt ein Mann in zwei Teilen auf dem Schotter. Danach ist nichts mehr wie zuvor.

Schreiben hilft

Mehr als drei Monate vergehen, in denen der Junge durch die Hölle geht. Kurz vor dem Durchdrehen gibt ihm Macy einen Rat. Das Mädchen, das ihm in der Sechsten mit ihrer Verliebtheit so auf die Nerven gegangen war, erkennt seinen schlimmen Zustand. „Bestimmte Dinge sollte man nicht für sich behalten. Sonst wird das immer größer in einem drin.“ Sie rät ihm, einen Brief zu schreiben. Am 3. Januar, also mehr als 3 Monate nach dem schrecklichen Unglück versucht er es. Schließlich werden es sieben Briefe in sechs Tagen.

Wenn etwas Schreckliches geschehen ist, fällt das Reden sehr schwer. Das eigene Leben scheint zerstört. Das Schweigen legt sich wie ein Betonklotz auf die Seele. Und dieser Klotz wird immer schwerer. Deshalb gelingt es nicht, vor sich selbst wegzulaufen. Vergessen klappt auch nicht. Die eigene Geschichte wird überlebensgroß. Macy weiß: „Das Ding ist, dass du es jemandem sagen musst, damit du es von der Seele kriegst. Alle Einzelheiten, alle Dinge, die dich verrückt machen. Schreib es auf. Schreiben ist wie Reden. Aber niemand kann dich unterbrechen und dir sagen, wie blöd du bist.“

Ein Briefroman
 

PARANOID PARK ist ein Briefroman. Durch das Schreiben versucht er, seine Gedanken zu sortieren. Die Geschichte ist sehr konkret im Heute verortet, aber die „altmodische“ Erzählform hebt das Geschehen auf ein abstrakteres Niveau. Ein Briefroman lässt eher an Werther denken als an Milieu. Zudem ist Brief- oder Tagebuchschreiben eine Kommunikationsform, die heute – wenn überhaupt – nur Mädchen wählen.

Dennoch hat sich Blake Nelson für diese Jungen-untypische Form entschieden und verweigert sich damit einer einfachen Erzählstruktur. Man erfährt die Geschichte ausschließlich aus der Innensicht des Jungen. Dadurch entstehen bedrückende Einblicke in die Bedingungen des Erwachsenwerdens und in die innere Zerrissenheit des Jungen. 

In seinem Kopf dreht sich alles. Hat er den Wachmann mit dem Skateboard erschlagen? War es ein Unfall? Notwehr? Trägt er Mitschuld? Auf alle Fälle hat er sein Leben versaut. Er wird nie mehr ein normales Leben führen können. Er versenkt das Skateboard im Fluss und hofft, dadurch ein anderer zu werden.

Sein Hirn ist voller widersprüchlicher Stimmen. Würde der Kommissar ihn verstehen? Er kann sein Zittern nicht kontrollieren. Kann er mit seinem Vater reden? Er versucht zu telefonieren und legt sofort wieder auf. Je mehr Botschaften auf ihn einstürmen, umso unmöglicher wird die Verarbeitung.

Eine Flut an Informationen verhindert, dass er klare Gedanken entwickeln kann. Es rattert in ihm wie in einer Maschine. Die Informationen, die eindringen, kann er nicht verarbeiten. Nachdenken gelingt nicht. Es gibt niemanden, dem er sein Herz ausschütten kann.

 
Es geht nicht um die Lösung eines Kriminalfalls. Es geht um viel mehr. Deshalb kann es keine endgültige Antwort geben. Das wäre zu einfach, zu kitschig, auf falsche Art tröstlich. Das Ende ist offen. Einerseits ist das schwerer zu ertragen, andererseits ist es ehrlicher.

Kakophonie im Kopf

Wenn das Leben aus Schuldgefühlen, Verzweiflung, Panikattacken, Lügen, Albträumen und Schweigen besteht, wenn die Seele vom Kummer zerfressen wird, dann melden sich Stimmen im eigenen Kopf. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln, von unterschiedlichen Zeitabschnitten des unverarbeiteten Geschehens, in widersprüchlichen Stimmungen geben sie Laut: Unsortiert, kontrastreich, unlogisch, verzweifelt und hoffnungsvoll. Dies war der Ausgangspunkt für die Bühnenbearbeitung.

Die Inszenierung ist ein intensives Selbstgespräch, das auf 4 Schauspieler und 2 Schauspielerinnen aufgeteilt ist. Die einzelne Stimme des Briefschreibers wurde aufgefächert in verschiedene Perspektiven. Im Dialog mit sich selbst versucht er, sein verwüstetes Leben zu analysieren, allmählich den undurchdringlichen Dschungel an Problemen und Ängsten zu durchkämpfen, das Hamsterrad der Verzweiflung anzuhalten und Schritt für Schritt Klarheit zu gewinnen. Klarheit darüber, wie groß seine Schuld am Tod des Wachmanns ist und die Klarheit, wie er mit dieser Schuld leben kann, Klarheit darüber, wem er sich offenbaren kann.

Zu welcher Lösung er findet, das erfährt der Zuschauer so wenig wie der Leser des Buches. In dieser Arbeit geht es nicht darum, Verhaltensanweisungen in schwierigen Situationen zu liefern. Gezeigt wird die Geschichte eines Jungen, der auf der Suche ist, wie er ein Unglück, das auf ihm lastet, verarbeiten kann. 

Die Inszenierung ist ernsthaft, aber nie seelenschwer. Auch wenn nicht jeder eine so belastende Verantwortung tragen muss wie der Protagonist, so kennt sicher jeder die Lage, aus der es aktuell keinen Ausweg zu geben scheint. Die Inszenierung ist eine große Solidaritätsbekundung für diese Momente im Leben eines Jugendlichen.

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