Eine Odyssee

Deutsch von Barbara Buri
Grafik: Römisches Mosaik, Odysseus lauscht den Sirenen, Mosaik aus Dougga, 3. Jhd. n. Chr., Museum Bardo, Tunis
Ausgezeichnet mit dem tz-Rosenstrauß des Jahres 2007
Regie
Johannes Schmid
Bühne und Kostüme
Michael Kraus
Musik
Portmanteau
Choreographie
Birgitt Paulus
Es spielen
Marie Ruback, Elisabeth Wasserscheid, Tim Kalhammer-Loew, Peter Wolter, Giorgio Spiegelfeld, Ullrich Wittemann
Musiker
Taison HeißGreulix Schrank

Dauer

90 Minuten

Alter

Ab 12 Jahren

Premiere

13. Oktober 2007

Einer der ältesten Mythen überhaupt: Odysseus, König von Ithaka, verlässt allen Orakelverheißungen zum Trotz Frau und Sohn, um sich mit 12 Schiffen dem gegen Troja ziehenden griechischen Heer anzuschließen. Nach 10 ermüdenden Kriegsjahren bauen die Griechen auf Vorschlag des listigen Odysseus ein großes Holzpferd - das sog. Trojanische Pferd - mit dessen Hilfe sie den Krieg gewinnen. Die nun beginnende Heimreise des Odysseus wird zur berühmten und weitere 10 Jahre andauernden Irrfahrt - der sog. Odyssee. Hier setzt die Inszenierung ein: Odysseus’ 10 jährige Odyssee nach Hause zu Frau und Sohn.

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Irrfahrten

Vor mehr als 2800 Jahren entstand die „Odyssee“. Ob sie tatsächlich aus der Feder des vermutlich blinden Dichters Homer stammt, fragen sich Spezialisten seit vielen Jahrhunderten. Keine Frage besteht darüber, dass die „Odyssee“ neben der „Ilias“ zu den ältesten und einflussreichsten Werken der abendländischen Literatur und Kulturgeschichte gehört. Wahrscheinlich gibt es keine vergleichbare Erzählung, die Künstler aus allen Bereichen derart inspiriert hat wie die „Odyssee“, egal, ob man sich im Bereich der Bildenden Kunst, des Films, des Romans, der Oper oder des Schauspiels umschaut. Erwachsene denken an „Ulysses“ von James Joyce oder „Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick, „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“ von Claudio Monteverdi oder auch „Oh, Brother, Where Art Thou“ der Brüder Coen. Schülern wird wahrscheinlich zuerst das (anspruchsvolle) Strategiespiel „Age of Mythology“ oder die „Odyssee“ von Asterix und Obelix einfallen (Und bei Homer assoziieren sie den gelbköpfigen Simpson-Vater.). 

 
Wie auch immer: Der Stoff von den Abenteuern eines listenreichen Helden, der nach dem Ende des Trojanischen Krieges 10 Jahre umherirren muss, bevor er zu Frau und Sohn heimkehren darf, ist deshalb in allen Zeiten und Genres faszinierend geblieben, weil die Titelfigur als Urbild des Menschen verstanden wurde.

Dank seiner Neugier und Listigkeit gelingt es ihm, Gefahren zu meistern, obwohl er der Willkür der Naturgewalten und den Launen der Götter ausgeliefert ist. T.W. Adorno nannte ihn den ersten modernen Menschen der Literaturgeschichte, da er sich nicht den Göttern und der Bestimmung ergebe, sondern sein Schicksal selbst in die Hand nehme. Herr der eigenen Geschicke zu sein und nicht zum Spielball fremder Mächte zu werden, dieser Wunsch lenkt und bestimmt uns auch heute noch. Und weil wir alle immer wieder erfahren, wie schnell man auf der Suche nach Selbstbestimmung irren kann, deshalb ist der Begriff „Odyssee“ zu einem Synonym für „Irrfahrt“ geworden. Aus den Irrfahrten des Lebens als Sieger hervorzugehen, bleibt die große Sehnsucht.

Neugier

Das Original des Homerschen Textes ist verloren, aber schon kurz nach dem ersten Erscheinen kursierten viele sich in Details unterscheidende Abschriften. Ab ca. 280 v. Chr. kümmerte sich die berühmte Bibliothek von Alexandria um Textvergleiche und erstellte kanonische Fassungen sowohl der „Ilias“ als der „Odyssee“. Dies hat vor allem mit der großen Verehrung zu tun, die Homer in der gesamten antiken Welt genoss. „Ilias“ und „Odyssee“ gehörten zum antiken Bildungskanon.
Bildung war nicht nur in der Antike eine gute Sache, sondern ist bis heute ein wesentliches Instrument zur Weltorientierung. Am Anfang steht immer die Neugier. Nur wer neugierig ist, kann wesentliche Fragen stellen. Und Fragen führen zu gedanklicher Selbständigkeit. 
Im Programmheft zur Uraufführung von EINE ODYSSEE im Jungen Schauspielhaus Hamburg beschreibt der Autor Ad de Bont seine Entdeckungsreise zu Homer auf ähnliche Weise. Der Leiter des Jungen Schauspielhauses, Klaus Schumacher, hatte ihm den Stoff vorgeschlagen. Zunächst war Ad de Bont nicht angetan von der Idee, diesen „Stoff aus der Mottenkiste“ neu zu bearbeiten.

Erst durch die Gespräche mit Klaus Schumacher und seinem Ensemble wurde die Neugier geweckt, die Geschichten von Odysseus neu zu lesen. „…wobei mich besonders die spannende Vermischung von Götter- und Menschenwelt interessiert sowie die monumentale Sprache: Die Hexameter. … Einer der wichtigsten und schönsten Aspekte an Homers ‚Odyssee’ ist natürlich die Sprache. Die vierundzwanzig Gesänge sind in daktylischen Hexametern geschrieben. … Dergestalt entsteht ein Text, der von einem poetischen Metrum gekennzeichnet ist. Es erschien mir eine Herausforderung, ebenfalls einen Teil des Stücks in Versen zu schreiben und auf diese Weise Homers Sprachgebrauch mittels des Theaters Kindern und Jugendlichen vorzustellen.“
Das ist eine wunderbare Herausforderung. In Zeiten des „easy listening“, in der die Worte verschwinden und durch Textschablonen ersetzt werden, in der nur noch wichtig ist, was gesagt wird, und nicht, wie es gesagt wird, lässt sich einer der renommiertesten Kinder- und Jugendtheaterautoren Europas von Homer zu Hexametern verführen, mit dem Anspruch, sein Publikum zu infizieren!

Der neue Blick

Kinder- und Jugendliteratur zeichnet sich häufig durch kurze Texte aus, weil man jungen Lesern angeblich mehr nicht zumuten kann. Diese Texte dürfen keine Kenntnisse voraussetzen und keine Anstrengung verursachen. Es ist aber nicht wahr, dass Schüler Nachdenken und Zuhören nur als Folter ansehen. Wahrscheinlich kennen sie die Geschichte von Odysseus nicht von Homer, sondern durch ein Computerspiel. Das macht nichts, darin liegt eine Chance. Mit unserer Theaterarbeit können wir sie bei ihren Kenntnissen abholen und ihnen eine Möglichkeit anbieten zur Begegnung mit anderen Welten, neuen Wörtern und großen Metaphern. Dabei kann es hilfreich sein, wenn der Plot der Geschichte nicht unbekannt ist. Sie können eine bisher unbekannte Sicht kennen lernen, sie erfahren, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann als bisher gewohnt. Solche Erfahrungen bereichern ein Leben.
Geschichten, die ganz weit weg von unserer Alltagserfahrung angesiedelt sind, können helfen, Dinge klarer zu erkennen. In unserem täglichen Erleben haben wir uns – das gilt für jüngere wie für ältere Menschen gleichermaßen – an Vieles gewöhnt, sodass wir Ungereimtheiten, Irritierendes, Grausamkeiten fraglos annehmen.

Wenn im Theater Schauspieler eine Geschichte aus vergangenen Zeiten erzählen, haben Zuschauer – das gilt für jüngere wie für ältere Menschen wiederum gleichermaßen – die Chance, sich mit den Widersprüchen des eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Wer dem Schicksal von Odysseus’ Sohn Telemach lauscht, kann vielleicht zum ersten Mal in sich die eigene Sehnsucht nach dem verschwundenen Vater spüren. Theater kann im Zuschauer etwas wachrufen, was normalerweise in ihm schläft.

Um Missverständnisse vorzubeugen: „Eine Odyssee“ transponiert die Geschichte nicht in die Gegenwart. Überlegungen dazu hat Ad de Bont angestellt, sie dann aber verworfen: „Aus welchem Grund sollte man so eine Geschichte in Versen erzählen und was hätten die griechischen Götter in einer Geschichte des Jahres 2005 zu suchen?“ Wir möchten ergänzen, dass es beglückend sein kann, das Fühlen, Wollen und Denken einer literarischen Figur auf die eigene Erfahrungswelt zu übertragen. Diese Erfahrung sollte man jungen Zuschauern nicht vorenthalten. 
 

Welt der Götter – Welt der Menschen

Die „Odyssee“ spielt in zwei parallelen Welten: Der Welt der Götter und der Welt der Menschen. Im Olymp regiert Göttervater Zeus mit seinen beiden Kindern Athene und Hermes, die von verschiedenen Frauen stammen. Man könnte ihn als allein erziehenden Vater mit zwei Kindern im problematischen Alter sehen. Eine wichtige Rolle spielt weiterhin Zeus’ älterer Bruder Poseidon. Odysseus hat seinem Sohn Polyphem das einzige Auge ausgestochen. Daraus folgt unerbittlicher Hass. Da Athene die Schutzgöttin von Odysseus ist, sind Familiendifferenzen klar.
In der Menschenwelt weiß ein Sohn nicht, wie er auf seinen Vater blicken soll, den er nie kennen gelernt hat. Am meisten macht ihm zu schaffen, dass dieser einfach verschwunden ist. Wenn der Vater im heldenhaften Kampf umgekommen wäre, dann könnte der Sohn stolz auf ihn sein. So aber? Obendrein macht ihm die jahrelange Trauer der Mutter zu schaffen.

Die beiden Welten sind ineinander verschachtelt, da die Götter immer wieder in das Leben der Menschen eingreifen. Das macht die Geschichte auf eine übergeordnete Art „logisch“. Odysseus kann alle Katastrophen auf seiner Irrfahrt überstehen, weil einer der Götter Partei für ihn ergreift. Andererseits wird er vor all die unlösbaren Aufgaben gestellt, weil das ebenfalls der Wille der Götter ist. Ad de Bont schreibt dazu: „Die griechischen Götter sind Ausdruck des Gedankens, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als wir verstehen. Die Interaktion zwischen Göttern und Menschen ermöglicht es uns, den Begriff ‚Schicksal’ inhaltlich wie formal-theatralisch zu analysieren.“

Perspektiven

Die „Odyssee“ des Homer hat einen interessanten Aufbau. Der Autor erzählt keineswegs in chronologischer Abfolge von der 10 Jahre dauernden Heimfahrt. Um die Spannung aufrecht zu halten, entwickelt er eine komplexe Erzählweise. Die Handlung beginnt kurz vor der Heimkehr von Troja nach Ithaka und umfasst einen Zeitraum von 41 Tagen. Durch Parallelhandlungen, Rückblenden, Einschübe, Perspektiv- und Erzählerwechsel erfährt der Leser, welche Gefahren und Aufgaben der Held bis zu diesem Zeitpunkt gemeistert hat. Diese Dramaturgie hat Ad de Bont für „Eine Odyssee“ beibehalten: „Ich habe versucht, den verschiedenen Geschichten – wenn auch nicht immer in gespielter Form – einen Platz im dramatischen Geschehen zu geben. Als Zeus und Athene unterschiedlicher Meinung darüber sind, woher Poseidons Wut rührt, erzählt Hermes die Geschichte, wie und warum Odysseus das Auge des Zyklopen Polyphem, Sohn des Poseidons, ausstach. Wenn Odysseus auf Scheria angespült wird, erzählt er die Geschichte von Skylla, um bei Nausikaa und deren Freundin Mitleid zu erregen. Und so weiter.“

Ein Stück mit unendlich vielen Orten und magischen Gestalten ist eine besondere Herausforderung für das gesamte künstlerische Team. All die Plätze zwischen Himmel und Erde können und sollen nicht illustriert werden. Das kann Film. Im Theater muss der Raum Möglichkeiten für die Schauspieler bieten und zugleich Freiheiten lassen für die Fantasie der Zuschauer, damit die Bilder in deren Köpfen entstehen können. Davon ausgehend entstand ein helles, hohes, offenes Theateruniversum auf zwei Ebenen. Die beiden Musiker füllen es – geleitet von der Geschichte – mit Klängen, Geräuschen, Rhythmen, ohrenbetäubendem Krach oder zärtlichen Melodien. Die Schauspieler weben an dem Geschichenteppich wie Penelope in den Nächten. Gemeinsam mit der Vorstellungskraft des Publikums entsteht so für jeden Zuschauer die Geschichte des größten Helden der griechischen Mythologie vor den eigenen Augen.

Die Mannschaft
 

Homer lebte vermutlich gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. in Kleinasien. Er ist der erste namentlich bekannte Dichter der griechischen Antike. Nicht verwandt mit Homer Simpson 
 

Ad de Bont ist 1949 im holländischen Brabant geboren. Er gehört zu den meistgespielten Kinder- und Jugendtheaterautoren: „Das besondere Leben der Hilletje Jans“, „Der Sohn des Chao“, „Mirad, ein Junge aus Bosnien“, „Mutter Afrika“ u.v.a.
 

Johannes Schmid wurde 1973 in Vilsbiburg geboren. Er arbeitet als Filmemacher und Theaterregisseur. An der SCHAUBURG inszenierte er „Die Drei Wünsche“ und „Das Trollkind“. Sein Kinofilm „Blöde Mütze“ startet am 24. April 2008 im Kino.
 

Michael Kraus wurde 1968 im Schwäbischen geboren. Vor seinem Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart absolvierte er eine Banklehre. Er arbeitet an Theatern in ganz Deutschland. An der SCHAUBURG hat er „Das Trollkind“ ausgestattet.
 

Portmanteau: ein Elektronik-Projekt von Christian „Taison“ Heiß und Gerald „Greulix“ Schrank. Beide waren in „Trollkind“ und „Fünfzehn Schnüre Geld“ dabei.

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