Der Vater eines Mörders

Für das Theater bearbeitet von Maria Knilli

Regie:
Maria Knilli
Bühne und Kostüme:
Lena Knilli
Musik:
Toni Matheis
Dias:
Volker Tittel
Es spielen:
Dirk Laasch, Christof Thiemann, Michael Vogtmann, Matthias Friedrich, Marion Niederländer
Musiker:
Leo Gmelch

Der Vater eines Mörders

Dauer

120 Minuten

Alter

Ab 14 Jahren

Premiere

11. Januar 1997
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Alfred Andersch - Portrait von Max Bense (1962)

“Generation 1914, kleinbürgerlicher Herkunft, Bayer, Gymnasiast in München, Buchhändlerlehrling, Unzufriedener, Brillenträger, Radfahrer, Pfeifenraucher, Rilkeleser, kommunistischer Jugendorganisationsleiter, Revolutionär, Häftling, Illegaler, Soldat, Einzelgänger, Revisionist, Abtrünniger, Antifaschist, Antibolschewist, Deserteur, Kriegsgefangener in USA, Gründer und Redakteur der Zeitung ‚Ruf’, Rückkehr, Europäer, Dialektiker, Oppositioneller, Nonkonformist, Gründer des „Abendstudios“ am Sender Frankfurt, Herausgeber der Reihe ‚studio frankfurt’, Redakteur am Norddeutschen Rundfunk, Herausgeber der Zeitung ‚Texte und Zeichen’, Entdecker und Förderer jüngerer experimenteller und engagierter Literatur, Autotourist,

Kenner Italiens, Frankreichs und Skandinaviens, konkreter Journalist für seltene Fälle, existentielle Intelligenz als Hörspielschreiber, Funkschriftsteller, Filmautor, Kritiker, Lyriker und Romancier, schließlich freier Schriftsteller, wohnhaft in Berzona im Tessin, Bewunderer Stendhals, Joseph Conrads und der Amerikaner des 20. Jahrhunderts, aber auch Becketts, Genets, Arno Schmidts, Adornos und Koeppens, von bewusster, aber an sich haltender Radikalität, immer ein wenig linker Hegelianer, auch Neigung zum religiösen Sozialismus...“

Der Vater eines Mörders

Am Ende seines Lebens erinnert sich der schwerkranke Autor Alfred Andersch an eine Schulstunde des Jahres 1928 im Wittelsbacher Gymnasium in München. Die Erzählung ist autobiographisch, auch wenn von der Hauptfigur Franz Kein in der dritten Person gesprochen wird. Franz Kein ist Alfred Andersch.
Aus der Sicht des 14-jährigen Schülers schildert der Autor den Verlauf einer Griechisch-Stunde. Unangemeldet taucht gleich nach Unterrichtsbeginn der Direktor in der Klasse auf, um seine „Untertertia B“ zu besuchen. Minutiös registriert Franz Kein, wie sein Griechischlehrer Kandlbinder die Fassung verliert.
Zweck dieser Visite ist es, einige Schüler zu examinieren. Nach dem guten Schüler Schröter wird der Adlige Konrad von Greiff an die Tafel gerufen. Von Greiff ist zwar ebenfalls gut in Griechisch, aber von deutschen Tugenden wie Untertanengeist und Unterwürfigkeit weiß er nichts. Er ist ein so frecher Hund, - selbst dem Rex gegenüber – dass er am Ende der Examination trotz guter Leistungen von der Schule relegiert wird, wegen Renitenz.
Das nächste Opfer ist Franz Kien selber. „Ausgeschlossen, dachte Franz. Das konnte es nicht geben. Aber dann gleich: es hat stattgefunden. Es findet statt. Der Rex wird mich in Griechisch prüfen. Herrgottsakrament. Himmelherrgottsakrament. Ein Unglück. Ein Unglück ist geschehen. So muß es sein, wenn man von einem Auto überfahren wird.“

Hilflos steht der Schüler an der Tafel, um scheißfreundlich und bösartig vom Direktor lächerlich gemacht zu werden durch das Vorführen einer Unwissenheit. „Die meisten anderen lernen halt ihr Zeug, hauen ihre Aufgaben hin, ein paar gibt es auch , die sind einfach dumm, sie können sich noch so anstrengen, sie schaffen es nicht, während der Werner Schröter überhaupt nichts zu lernen braucht, der kann alles von vornherein, dem fliegt es zu. Ich aber könnte immerhin, wenn ich wollte. Wenn sie es alle sagen, wird es schon stimmen.
Ich will aber nicht. Alle haben sie es mit dem Wollen. Man muß etwas nur wollen, dann geht es schon. Wenn einer nicht will, dann ist es ein Faulenzer, und sie haben recht, ich bin faul, ich sitze wie gelähmt vor den Hausaufgaben und schmiere irgendetwas Flüchtiges hin, oder ich schiebe es bis zum Abend auf und laufe auf der Straße.“
Da er nach Einschätzung des Rektors, ebenso wie sein Bruder „ zur Ausbildung an höheren Schulen nicht geeignet“ sei, muß er das Gymnasium verlassen. Der Griechischlehrer steht hilflos dabei.
Alfred Andersch nennt seine Erzählung eine Schulgeschichte. Das ist eigentlich eine unzureichende Kategorisierung. Denn während der Schüler Franz Kien den Verlauf der Geschehnisse im Klassenzimmer beschreibt, schweifen seine Gedanken immer wieder ab.
Der Leser wird vertraut gemacht mit Kiens Familie, vor allem mit dem schwerkranken Vater und dessen politischem Denken – einem enttäuschten Kriegsversehrten aus dem ersten Weltkrieg, der als Deutschnationaler und Ludendorffanhänger ein desillusioniertes und zunehmend armseliges Dasein mit seiner Familie fristete. 
Während ein Trommelfeuer an Erniedrigungen auf ihn herabprasselt, gelingt es Franz Kien gleichzeitig, seinen kranken Vater mit dem gesunden, schneidigen Rektor zu vergleichen. „Ob der Rex auch an der Front gelegen hat wie mein Vater, der dreimal verwundet worden ist, fragte er sich, er konnte es sich nicht vorstellen, der Rex sah nicht aus wie ein Frontsoldat, ja, nicht einmal wie jemand, der irgendwann einmal verwundet worden war.“
Dieser Direktor heißt Gerhard Himmler und ist der Vater Heinrich Himmlers, jenem späteren Reichsführers SS, der die Polizeigewalt in Deutschland zentralisierte in einem eng mit der SS verflochtenen System, der die Konzentrationslager zu einem Terrorinstrument des nationalsozialistischen Staates ausbaute, der die Waffen-SS schuf und der zum entscheidenden Organisator des Genozids an den Juden wurde.
 

Fragen statt Antworten

All dieses Wissen fügt der Leser hinzu. Der Autor selbst verlässt die Perspektive des 14-jährigen Schülers nur im Titel. Im Nachwort schreibt Andersch: „War es dem alten Himmler vorbestimmt, der Vater des jungen zu werden? Mußte aus so einem Vater mit ‚Naturnotwendigkeit’, d.h. nach sehr verständlichen psychologischen Regeln, nach den Gesetzen des Kampfes zwischen aufeinander folgende Generationen und den paradoxen Folgen der Familientradition, ein solcher Sohn hervorgehen? Waren beide, Vater und Sohn, die Produkte eines Milieus und einer politischen Lage, oder gerade entgegengesetzt, die Opfer von Schicksal, welches bekanntlich unabwendbar ist – die bei uns Deutschen die beliebteste aller Vorstellungen? Ich gestehe, dass ich auf solche Fragen keine Antworten weiß, und ich gestehe sogar noch weiter und erkläre mit aller Bestimmtheit, dass ich diese Geschichte aus meiner Jugend niemals erzählt hätte, wüsste ich genau zu sagen, dass und wie der Unmensch und der Schulmensch miteinander zusammenhängen.“

Buch und Bühne

Wie kann man eine so vielschichtige und nuanciert gebaute Erzählung für die Bühne bearbeiten, ohne sie zu zerstören? Von Beginn unserer Vorbereitungen war klar, dass man kein Klassenzimmer auf die Bühne stellen kann, in dem Schauspieler als Lehrer uns Schüler agieren. Nur ein abgenagtes Gerippe des Andersch-Textes bliebe übrig.
All die Gedanken, die sich Franz Kein macht, die Fragen, die er aufwirft, die Detailgenauigkeit, mit der er beobachtet, müssten unter den Tisch fallen. Es bliebe nichts als eine Schulgeschichte mit einem subtil bösartigen Oberstudiendirektor übrig, der Schüler fertigmacht, ohne dass der Lehrer Stellung zu den Vorgängen bezieht. Das ist aber nur ein Teil von Anderschs Erzählung. Zunächst arbeiteten wir mit der Idee, die Bühne sei ein Tonstudio, in dem die Schauspieler als Schauspieler und nicht in Rollen bei der Aufnahme des Hörspiels „Der Vater eines Mörders“ zu sehen sind. Man sieht Schauspielern bei der Arbeit zu, wie sie einen Herrn Himmler, einen Herrn Kandlbinder und einen Franz Kien sehen lassen, anstatt die Illusion beim Zuschauer zu wecken, sie seine eben diese Figuren.
Im Laufe der Vorbereitungen wurde dieser Arbeitsansatz immer weiter verdichtet, bis ein ganz abstrakter Raum übrig blieb. Man könnte sagen, es handle sich dabei um das innere von Franz Kiens Kopf, in dem die Ereignisse des Tages noch mal vorbeiziehen, ehe er das Licht ausmacht und einschläft.
Die schicksalhafte Begegnung mehrerer Menschen in einem Klassenzimmer wird auf der Bühne mit Texten von Alfred Andersch beschrieben, die Bilder dazu müssen beim Zuhören im Kopf der Zuschauer entstehen.
 

Deutsch Eins – Griechisch Fünf

“In der Eingangshalle des Wittelsbacher Gymnasiums konnten mich nur die Aquarien fesseln, die an der südlichen Fenstern standen, so dass die Sonne durch das grüne Wasser und das Gold der Fischleiber hindurchschien; ich wartete auf die Naturkunde-Stunden bei Professor Burckhardt, nicht weil mich das Fach interessierte, sondern weil mich der rothaarige, weißhäutige Mann anzog, der, wenn er das Klassenzimmer betrat, einen gereizten Blick aus den von schweren Gläsern und buschigen Brauen geschützten hellblauen Augen in die Runde warf, ehe er den Unterricht begann. Aber die empfindliche Geistigkeit von Burckhardts Unterricht war nur ein Intermezzo in einer Welt, die mich mit Überdruß erfüllte. Ich musste das Gymnasium bereits am ende der Untertertia verlassen; zwar erwarb ich mir in Deutsch und Griechisch die besten Noten, aber ich war – auch in meinem späteren Leben – niemals in der Lage, eine Sprache nach grammatikalischen Gesetzen zu erlernen oder mathematische Formeln zu verstehen, die über die einfachsten Rechenmethoden hinausgehen, ebenso wenig wie es mir gegeben ist, philosophischen Gedankengängen folgen zu können, wenn sie sich in der Sprache begrifflicher Deduktion vollziehen. Der schreiende Missklang zwischen meiner Eins in Deutsch und meiner Fünf in Griechisch verleitete die in reinem Wissenschaftsdenken erzogenen Lehrer zu der Annahme, ich wolle nur das lernen, was ich lernen wolle. Sie hätten besser daran getan, einzusehen, dass ich überhaupt nichts 'lernen' wollte; was ich wollte, war: schauen, fühlen und begreifen.“
(Aus: Andersch, Kirschen der Freiheit)
 

Kinderblick vom Balkon

“Weiß nicht mehr genau in welche Jahreszeit die Münchner Räterepublik fiel. Ist ja leicht festzustellen. Frühjahr, glaub’ ich. War, glaub’ ich – mein’ ich, wollen Sie sagen, würde K. sagen, glauben können sie nur an Gott -, mein’ ich also, ein dunkler, schmutziger Frühlingstag, an dem sie Menschen in langen Reihen die Leonrodstraße in München entlangführten, in Richtung auf das Oberwiesenfeld zu, um sie in den weiten Höfen, vor den Garagenwänden des ‚Kraftverkehr Bayern’ zu erschießen. Die erschossen werden sollten, hatten die Hände über den Kopf erhoben, vor Müdigkeit lagen die Hände lose gekrümmt auf den Köpfen, oder die eine Hand umschloß die andere am Gelenk. Lange Kolonnen, in unregelmäßigen Trupps, immer wieder kamen welche. Die anderen, die auf sie schießen würden, hatten die Gewehre im Anschlag. Sah das vom Balkon unserer Wohnung in einer Seitenstraße aus, aber verstand es damals noch nicht. ‚Das Gesindel’ hörte ich meine Vater hinter mir sagen, denn die Räterepublik war zu Ende, aber dann zog er mich doch weg, vielleicht weil ein Grauen ihn überfiel oder weil ein Wichtigtuer unten auf der Straße gerufen hatte: ‚Fenster zu, es wird geschossen!’ Sah damals mit meinem fünfjährigen Kindergesicht über die Brüstung des Balkons hinweg auf sie hinab, aber wusste noch nicht, dass sie zum Erschießen geführt wurden, dass ich keinen von ihnen jemals kennen lernen würde.“
(Aus: Andersch, Kirschen der Freiheit)

Hauptmann der Reserve

“Mein Vater hatte die schwarzen Haare, die Adlernase, die goldumrandete, scharf funkelnde Brille und die rote, sich leicht erregende Haut eines feurigen Menschen. Während er die Gewerbe eines kleinbürgerlichen Kaufmanns und Zivilisten – Versicherungen, Immobilien und Derartiges – sehr mangelhaft betrieb, so dass die Familie immer tiefer in die Schulden geriet, fühlte er sich in Wahrheit als jener Hauptmann der Reserve, als der er mit Dekorationen und Verwundungen übersät, aus den Infanteriestellungen in den Vogesen zurückgekehrt war. Als er dem Zug, der ihn in den Münchner Hauptbahnhof brachte, entstieg, wurden ihm von Revolutionären die Achselstücke heruntergerissen. Er kam nach Hause, nicht nur ein geschlagener, sondern auch ein entehrter Held, und führte von da an ein halbmilitärisches Leben in Verbänden weiter, die ‚Reichskriegsflagge’ oder ‚Deutschlands Erinnerungen’ hießen. Wenn man zu denen gehört, die den Hartmannsweilerkopf im Sturm genommen haben, wird man wohl unfähig zu begreifen, dass die geschichtlichen Entscheidungen nicht dort fallen, wo man durch ein Scherenfernrohr die feindlichen Stellungen ausspäht.“
(Aus: Andersch, Kirschen der Freiheit)

Der Sturz des Vaters

“Als ich eines Tages in die Straße, in der wir wohnten, ging, sah ich meinen Vater, auf seine Krücken gestützt, aus der Haustür kommen. Ich sah die Einsamkeit, die ihn umgab. Er stand vor der Türe und blickte unentschlossen vor sich hin, ohne mich wahrzunehmen. Etwas fürchterlich Tragisches war um ihn; ich wusste, dass er kein Geld hatte und dass er nicht wusste, wohin er gehen sollte. Seine Bekannten hatten sich von dem armen Mann zurückgezogen, und auch wir, die Familie, hatten ihn im Geiste schon verlassen. Er wusste, dass meine Mutter Augenblicke hatte, in denen sie ihr Schicksal bis zum Überdruß erfüllte, und dass mein älterer Bruder und ich seine politischen Anschauungen nicht teilten. Sein Leben war zerstört, alle seine Pläne gescheitert, und sein Körper war dem Tode geweiht. In diesem Augenblick, als er sich unbeobachtet glaubte, war sein stolzes und männliches Gesicht von Leere und Trauer erfüllt, blicklos starrten seine Augen über den glatten Asphalt der Straße hinweg in den Abgrund der Jahre. Die Schultern über die Krücken geneigt, sah er den Plankenzaun einer Kohlenhandlung an und wusste, dass er keinen Pfennig in der Tasche hatte.
Ich lief, von diesem Anblick überwältigt, auf ihn zu, um ihn zu stützen, ihm zu helfen, denn ich wusste, dass er einen seiner ersten Gehversuche nach der Amputation machte. Aber ich kam zu spät. Noch während ich lief, sah ich, wie er sich verfärbte, wie er die Krücken losließ und auf das Pflaster hinschlug. In seiner tiefen Ohnmacht lag er sehr still, und die Trauer seines Gesichtes war auf einmal zur Ruhe gekommen; in der Erschöpfung enthüllte das Haupt aus gelbem Wachs eine Menschen-Natur, die sich aus Selbstlosigkeit einer politischen Idee verschrieben hatte und daran zugrunde ging. Mein Vater hatte kein Geld, weil er die Niederlage Deutschlands zu seiner eigenen gemacht hatte. Von diesem Sturz hat er sich nie wieder erholt.“
(Aus: Andersch, Kirschen der Freiheit)

Das Gesamtwerk von Alfred Andersch ist im Diogenes Verlag, Zürich erschienen

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