Haupt-Reiter
Der Kick
Regie und Raum
George Podt
Kostüme
Giesela Höfer
Es spielen
Berit Menze, Peter Wolter, Thorsten Krohn
Dokumentardrama nach einem authentischen Fall: Drei Jugendliche misshandeln einen gleichaltrigen Bekannten. Sie schlagen stundenlang auf ihr Opfer ein. Einer pinkelt dem Wehrlosen ins Gesicht; und schließlich wird er nach dem Vorbild des Bordsteinkicks aus dem Film "American History X" hingerichtet: Die Täter vergraben die Leiche in einer Jauchegrube. Erst vier Monate später wird das Skelett der Leiche gefunden. Niemand aus dem Dorf sah Veranlassung, den Jungen ernsthaft zu suchen.
Nächste Termine
Der Mord in Potzlow
„Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien.“ (Johann Gottfried Herder)
Der Mord in Potzlow war einer der grausamsten Morde nach der Wende. Völlig willkürlich hatten die Täter ihr Opfer ausgewählt. Die ungeheuerliche Tat zog sich über einen ganzen Tag hin, anfänglich sogar unter den Augen mehrerer Erwachsener. Ohne einen Plan, ohne konkreten Auslöser waren die jugendlichen Täter zu unbeschreiblichen Grausamkeiten fähig, einfach aus Perspektivlosigkeit, Langeweile, geistiger Leere, fehlender Orientierung.
Am 13. Juli 2002 wird der siebzehnjährige Marinus Schöberl von seinem Freund Marcel, dessen älteren Bruder Marco und einem weiteren gleichaltrigen Kumpel viele Stunden lang misshandelt. Die drei prügeln ihn, beschimpfen ihn als „Juden“, sehen in ihm wegen seiner gefärbten Haare und seiner Skaterhosen einen Feind. Sie füllen ihn mit Alkohol bis zur Bewusstlosigkeit ab und verhöhnen ihn, weil er dem Männerritual nicht gewachsen ist und sich übergeben muss. Bei diesen Exzessen sind Erwachsene anwesend, die dem Treiben keinen Einhalt gebieten. Am Ende der Gewaltorgie nehmen die Drei ihr Opfer auf dem Fahrrad mit zu einem verlassenen LPG-Gelände am Rande des Dorfes. Dort geht das Prügeln weiter. Einer fordert den hilflosen Marinus auf, sich hinzuknien und nach Vorbild des Films „American History X“ in die Bordsteinkante der Futtertröge zu beißen.
Als Marinus der Aufforderung nachkommt, springt Marcel auf den Kopf des Opfers. Danach beschließen die Drei, den Schwerverletzten mit einem Glasbetonstein zu erschlagen. Anschließend vergraben sie ihn in einer Jauchegrube.
Vier Monate lang fühlt sich niemand im Dorf bemüßigt, ernsthaft nach dem verschwundenen Marinus Schöberl zu suchen. Auch die Polizei nicht. Selbst als sein Fahrrad gefunden wird, will niemand Fragen stellen.
Auf der Beerdigung spricht der Pfarrer die folgenden Worte: „Marinus ist von unmenschlichen Kreaturen zu Tode gesteinigt worden, deren Feind die Sprache, die Liebe, das Leben war und wohl weiter sein wird. Von Kreaturen des Todes ... Liebe Familie Schöberl, liebe Freunde von Marinus, die Fragen nehmen kein Ende. Eltern, Geschwister und Freunde machen sich schwerste Vorwürfe: Warum? Warum haben wir uns den Tätern nicht mutig in den Weg gestellt? Stattdessen haben wir es hingenommen, dass irregeleitete, zum Teil restlos verkommene jugendliche Glatzenträger ihren giftigen Ungeist ungeniert durch unsere Gemeinden tragen konnten. Und dass sie dafür noch den Beifall einiger Leute einheimsen konnten, und sei es der Applaus des betretenen Schweigens.
Warum hat es niemand bemerkt, das Marinus in der Julinacht durch das komplette Dorf Potzlow getrieben wurde? Haben denn alle geschlafen? Oder waren sie betrunken oder einfach barbarisch?“
Fragen, die zu spät gestellt wurden.
Eine beklemmende Textcollage
„Die Stärke des dokumentarischen Theaters ist es, mit seiner Schnitt-Technik Einzelheiten aus dem chaotischen Material der Realität hervorzuheben.“ (Peter Weiss)
Der Dokumentarfilmer Andres Veiel ist zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt nach Potzlow gefahren. Vierzig Mal innerhalb ihrer achtmonatigen Recherche waren sie ab September 2004 dort. Aus Gesprächen mit den Tätern, deren Eltern, der Mutter des Opfers, den Dorfbewohnern und Freunden haben sie ein Theaterstück destilliert. „Wir wollen Marco und Marcel, aber auch Marinus Schöberl eine Biographie geben. Die Tat soll nicht verharmlost, das Leben von Tätern und Opfern aber auch nicht darauf reduziert werden. ... Wenn es überhaupt ein Kernmotiv gibt, dann ist es der Machtrausch, jemanden zu demütigen. Und, wie Marcel gesagt hat, der Kick, jemanden den Schädel zu zertrümmern.“
Entstanden ist eine beklemmende Textcollage aus Sprachlosigkeit und Hass, die die beiden Autoren aus ihren Interviews und den Verhörprotokollen der Staatsanwaltschaft Neuruppin montiert haben. Die Puzzlesteine ihrer Recherche haben sie zu Biographien und Schicksalen gefügt, in denen sich unvorstellbare Dinge abgespielt haben. Die Autoren geben keine Antworten. Sie lassen die Betroffenen reden. „Ich will etwas begreifen, erst mal hinsehen und nicht das bestätigen, was ich ohnehin zu wissen glaube.“ (Andres Veiel)
Weder Stück noch Aufführung versuchen, Erklärungsversuche für die Tat zu liefern; pädagogische Ratschläge oder kurzschlüssige Folgerungen fehlen. Aber man kann erahnen, wohin Menschen treiben, wenn die Abwesenheit von Liebe und Achtung ihr Leben bestimmen.
Dies zeigen die drei Schauspieler, die wie die Autoren in der Vorstellung zu einer monströsen Spurensuche aufbrechen. Sie bleiben immer außerhalb des Geschehens, schlüpfen nicht in die Rollen der Beteiligten. Sie stellen nicht dar, sondern stellen das Geschehene vor, um so Fragen beim Zuschauer auszulösen.
Das Dorf Potzlow
„Demokratie ist für mich Chancengleichheit; und in Potzlow komme ich in eine Region, wo es das definitiv nicht mehr gibt.“ (Andres Veiel)
„Potzlow ist ein ganz normales Dorf. Wir haben hier einen Taubenzüchterverein und eine Freiwillige Feuerwehr. Vor ein paar Jahren sind wir zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden. Vor der Wende gab es 500 Einwohner, inzwischen sind es 600. Das ist doch auch was.“ (Der Bürgermeister von Potzlow)
Bei Taten wie der von Potzlow spielen Gewalt in den Familien, Missbrauch, Alkoholismus, Demütigen oft eine wichtige Rolle. Bei den Eltern von Marco und Marcel trifft dies nicht zu.
Sicher war die Nachwende-Unsicherheit ein entscheidender Faktor in dem Verhängnis von Potzlow. Wer aus sich was machen will, hat die Region längst verlassen. Die, die bleiben, braucht keiner mehr. Das lässt sich nüchtern feststellen. Ebenso nüchtern kann man feststellen, dass es im ganzen Land immer mehr Jugendliche werden, die nicht gebraucht werden. Ist Potzlow eine gesellschaftliche Vorwegnahme?
Als die Wende kam und von einem Tag auf den anderen den Menschen Eigenverantwortung abverlangt wurde, konnten viele diese nicht aufbringen. Was macht man mit der neu gewonnenen „Freiheit“, wenn man seine Arbeit (und damit seinen Platz im Leben) verliert und Fähigkeiten gefordert sind, die man nie gelernt hat. Man hofft, wird enttäuscht, fühlt sich als Versager und verliert die Selbstachtung. Man rettet sich in extreme Positionen, weil die scheinbar Halt geben. Das gilt für beide Generationen, sowohl für die Jungen wie für die Alten. Dieses Phänomen ist nicht Potzlow-typisch.
Potzlow liegt in einer Gegend, in der nicht mehr die Arbeitslosen gezählt werden, sondern diejenigen, die noch Arbeit haben. Wenn es aber so wäre – was man keinesfalls als pessimistische Schwarzmalerei abtun kann – dass die Region von Potzlow die Avantgarde der Globalisierung ist, und somit unsere Zukunft, dann muss man hellwach werden. Wenn das Kapital immer schneller in Billiglohnländer und Steueroasen flieht, dann kann der Preis dafür die Demokratie sein. Wenn es so wäre, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, die immer weniger jungen Menschen Sinn und Perspektive bieten kann, dann ist bald überall Potzlow. Wer kann das wollen?
Andres Veiel
1959 in Stuttgart geboren, studierte ab 1982 Psychologie in Berlin. Parallel absolvierte er eine Regie- und Dramaturgieausbildung. Nach mehreren Inszenierungen am Gefängnistheater Berlin-Tegel arbeitet Andres Veiel seit 1988 vorwiegend als Dokumentarfilmer. Zu seinen vielfach ausgezeichneten Filmen zählen „Die Überlebenden“ (Adolf-Grimme-Preis, Hauptpreis Internationales Dokumentarfilmfest München), „Black Box BRD“ (Europäischer Filmpreis, Deutscher Filmpreis, Bayerischer Filmpreis) und „Die Spielwütigen“ (Publikums-Preis der Berlinale, Preis der Deutschen Filmkritik)