Das kalte Herz

Regie:
Peer Boysen
Bühne:
Peer Boysen
Mitarbeit und Kostüme:
Ulrike Schlemm
Es spielen:
Corinna Beilharz, Klaus HadererMarion Niederländer, Ramses SiglSabine Zeininger
Keyboards:
Klaus Reichardt

Dauer

90 Minuten

Alter

Ab 9 Jahren

Premiere

14. Oktober 2000
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Das kalte Herz – ein Märchen?

Peter Munk ist unzufrieden. Im tiefsten Schwarzwald als armer Köhler geboren, scheint das Leben kaum eine Aussicht auf Besserung seiner sozialen Situation zu bieten. Wie sein Vater muss auch Peter wieder Köhler werden. Da bieten zwei miteinander in erbittertem Streit liegende Waldgeister die Aussicht auf einen Ausweg aus der Armut. Zunächst gewährt das Glasmännlein drei Wünsche: Peter wünscht sich Geld, Ansehen und eine Glashütte, obwohl er nichts von der Glasbläserei versteht. Bald geht sein neues Geschäft zu Grunde und Peter ist ruiniert. Da verspricht der Holländer-Michel, ihn zu retten, verheißt Geld und ein unbeschwertes Leben. Allerdings soll Peter ihm im Gegenzug sein Herz überlassen und der Holländer-Michel will ihm anstatt dessen einen kalten Stein in die Brust versetzen. Peter lässt sich zu dem Geschäft überreden. Doch bald stellt er fest, dass der Preis sehr hoch war und er will sein Herz wiederhaben...
Das kalte Herz” beginnt wie so viele Märchen mit einem Generationenkonflikt: Ein junger Mann muss den Beruf des Vaters gegen seinen Willen erlernen. Unzufrieden und unglücklich mit seinem Los, sucht er nach Auswegen und Wegen, um zu Geld zu kommen. Schließlich verkauft er sein Herz. Ganz buchstäblich und wahrhaftig. Dieser Tausch ist das Skandalöse und das Beunruhigende an Hauffs Erzählung. Hauff nimmt zum ersten Mal das uralte Bild von der verkauften Seele (als deren bevorzugter Ort in der abendländischen Kultur das Herz angesehen wird) wörtlich und fantasiert sozusagen eine Herztransplantation ‚avant la lettre‘: Eine Persönlichkeitsveränderung von beängstigendem Ausmaß ist die Folge...

Die vehementen Erschütterungen, die die europäische Gesellschaft und Kultur um 1800 erfasst hatten und die die Folie für Hauffs Märchen bildeten, finden in diesem gewalttätigen und eindrücklichen Bild gleichsam ihre adäquate Fortsetzung. Nicht zuletzt macht das die Modernität der Geschichte aus und ist ein Grund dafür, dass uns dieses Kunst-Märchen heute noch ebenso fasziniert wie die Leser vor knapp 200 Jahren, obwohl die Transplantation von Herzen schon längst keine märchenhafte Fantasie, sondern medizinische Wirklichkeit geworden ist. Die Gattung des Märchens wird zwar zitierend aufgerufen, doch Hauff stellt ihre Motive hier (mit einer Konsequenz wie in keinem anderen seiner Märchen) auf den Prüfstand der Gemengelage zeitgenössischer Mentalität. Wir, die wir vielleicht am Ende eines Zeitalters stehen, das mit einer industriellen Revolution anhob und heute mit dem Beginn einer elektronischen Revolution zu Ende geht, können deshalb um so mehr ermessen wie zutreffend Hauffs märchenhafte Zeitdiagnose gewesen ist: Der Kreislauf des Geldes bestimmt den Einzelnen heute ebenso nachhaltig wie der Kreislauf des Bluts...

Wie viele Märchen erzählt "Das kalte Herz” dabei auch eine Sozialisationsgeschichte; es erzählt von den Schmerzen des Erwachsenwerdens, von den Schicksalslinien, die sich in einer Lebensgeschichte kreuzen, sich bündeln und wieder auseinanderlaufen. Sichtbar werden diese Linien an den Wendepunkten eines Lebenslaufes. Jeder kennt diese Momente: Augenblicke der Entscheidung, in denen – bewusst oder unbewusst – die Biographie eine andere Richtung nimmt. ”Was will ich werden?” oder ”Wer will ich sein?” lauten die häufigsten Fragen, die solchen Entscheidungen vorausgehen. Es sind auch jene Fragen, die den Kohlenmunk-Peter umtreiben. Hauffs Märchen ”Das kalte Herz”, so könnte man sagen, stellt die krisenhaften Momente solcher Lebensentscheidungen ins Zentrum des Erzählens. Als Sinnbild für den Einfall des Zufalls in der Lebensgestaltung postiert Hauff zwei Sagenfiguren als Steuermänner von Peter Munks Biographie. Aber es sind zwei Steuermänner, die das Schiff in jeweils entgegengesetzte Richtungen steuern.

Kopf oder Zahl? Holländer-Michel und Glasmännlein

Der Holländer-Michel und das Glasmännlein sind symbolische Figuren. Sie repräsentieren unterschiedliche Lebenskonzepte, diametral einander entgegengesetzte Glücksvorstellungen und Menschenbilder. Und sie stehen nicht zuletzt für zwei unvereinbare ökonomische Strategien, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zeichen der sogenannten industriellen Revolution herausgebildet haben und die auch heute noch gültig sind. Karl Marx hat die widerstreitenden Konzepte einmal umfassend definiert und den einen ”Schatzbildner”, den anderen ”Kapitalist” genannt: Dieser absolute Bereicherungstrieb, diese leidenschaftliche Jagd auf den Wert ist dem Kapitalisten mit dem Schatzbildner gemein, aber während der Schatzbildner nur der verrückte Kapitalist, ist der Kapitalist der rationelle Schatzbildner. Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt. (Karl Marx, Das Kapital) Das ist eine treffliche Beschreibung der unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle, die Hauffs Waldgeister verfolgen. ”Schatzhauser” ist demgemäss auch einer der Namen des Glasmännleins, und seine Empfehlungen laufen letztlich auf die Akkumulation des Kapitals durch Sparsamkeit und Fleiß hinaus. Demgegenüber verkörpert der Holländer-Michel die Figur eines globalen Spekulanten, der das Holz riskant quer durch Europa transportiert, um es möglichst gewinnbringend dort zu verkaufen, wo Holz Mangelware ist.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden ungleichen Gesellen mär-chenhaft eindeutig positiv bzw. negativ besetzt: Der Holländer-Michel, der Peters Herz gegen einen Stein tauscht und ihm dafür zu einem Vermögen verhilft, trägt deutliche Züge einer bösen Teufelsgestalt. Das wohlmeinende Glasmännlein hingegen, das dem Peter drei Wünsche erfüllen muss, nutzt diese Wünsche zur Durchführung eines konsequenten Erziehungsprogramms, das aus Peter einen besseren Menschen machen soll. Doch der Erfolg der Glasmännlein-Strategie ist schon am Ende von Hauffs Märchen ironisch zugespitzt. Deutlich steht im Hintergrund des Textes das Bewusstsein des Satirikers Wilhelm Hauff von der Ambivalenz der frühkapitalistischen Errungenschaften. Zu sehr ist der 1827 entstandene Text geprägt von der schweren Wirtschaftskrise, die Europa 1825/26 heimsuchte, begleitet von den erschreckenden Berichten über die Arbeitsbedingungen englischer Fabrikarbeiter in der deutsche Presse. Märchenhafte Lösungen können da nur mehr in gebrochenem Licht aufscheinen.

Die Spannung zwischen der märchenhaften Atmosphäre und der realistischen Anlage der Erzählung sowie die Konkurrenz der beiden Waldgeister Holländer-Michel und Glasmännlein sind der Ausgangspunkt für unsere Inszenierung von Kerstin Spechts Dramatisierung des Märchens gewesen. Verführer alle beide, steinreich der Eine, glashart der Andere, kämpfen sie mit unterschiedlichen Strategien um den Kohlenmunk-Peter. Letztlich verkörpern sie komplementäre Lebensprinzipien, die nicht voneinander zu trennen sind.

Schattenspiel und Schauspiel

Um den Bogen von der Vergangenheit der Märchenform zur Gegenwärtigkeit der Geschichte sinnlich erfahrbar zu machen und so auch einen Weg zu zeichnen, der Hauffs Märchen direkt in unsere Zeit führt, hat der Regisseur Peer Boysen eine Mischform aus Schattenspiel und Schauspiel erfunden. Das Spiel beginnt als Schattenspiel. In extrem verlangsamten ruhigen Bildern entsteht die Atmosphäre einer Märchenerzählung aus den Zeiten, da das Wünschen noch geholfen hat. Peer Boysen vertraut dabei ganz auf die archaische Kraft von Schattenrissen, die manchmal an den frühen Stummfilm erinnern oder an die Laterna-Magica-Vorführungen auf den Jahrmärkten der Jahrhundertwende. Doch allmählich wird die Leinwand brüchig, nacheinander schälen sich die Figuren aus den Bildern, werden dreidimensional und ergreifen selbst das Wort. Schließlich wird die Schattenwand vollständig aufgelöst, der Märchenzauber schwindet, die Menschen stehen vor der nun offenen Brandmauer des Bühnenhauses. Das Schattenspiel hat sich in ein Schauspiel verwandelt.

Wenn man will, kann man das auch als ein Stück Menschheitsgeschichte der Neuzeit verstehen. Aus der Aufgehobenheit in einer Form (z.B. einer Religion) bricht der Mensch auf und macht sich selbständig, überwindet Hindernisse, lernt die Natur zu beherrschen und zu benützen. Aber am Ende ist er allein auf sich gestellt, muss sich zurecht finden in einer Welt, die kompliziert geworden ist und unübersichtlich. Eine Welt, die über seinen Verstand geht und die ihm kaum mehr einen metaphysischen Halt bietet. Eine Welt überdies, die – gegenteiligen Behauptungen zum Trotz - mit Geld allein nicht zu begreifen ist. Und das wäre schlussendlich keine geringe Erkenntnis für unsere Zeit.

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