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Ein Theaterexperiment nach August Strindberg - Deutsch von Heiner Gimmler
Regie:
Hansjörg Betschart, Peer Boysen, Guy Cassiers, Marcelo Diaz
Bühne und Kostüme:
Andrea Spanier
Musik:
Toni Matheis
Es spielen:
Corinna Beilharz, René Dumont, Peter Ender, Katarina Klaffs, Dirk Laasch, Silke Nikowski, Heio von Stetten, Christoph Wettstein, Sabine Zeininger
Nächste Termine
Ausgangspunkt
Kein Theater kann künstlerisch lebendig bleiben, wenn es nur von Premiere zu Premiere und Spielzeit zu Spielzeit disponiert. Neben den Repertoire-Stücken muß immer wieder für das ganze Ensemble die Möglichkeit geschaffen werden, Innovatives zu erforschen, künstlerisch zu tanken und auszuprobieren, mit höchstem Risiko einen unbekannten Achttausender zu besteigen.
Solch ein Prozess kann von seiten der Beteiligten nur dann wirklich stattfinden, wenn die Möglichkeit des Scheiterns abgesichert ist. Das heißt, es muß den Schutz geben, dass ein solcher Prozess nur beschränkt (oder im äußersten fall gar nicht) der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Wenn die Beteiligten wissen, dass die Vorstellung 100 mal gespielt werden muß (dies sind die gemittelten Zahlen an der SCHAUBURG) wird diese Kenntnis die Probenarbeiten beeinflussen.
Eine Möglichkeit des künstlerischen Tankens sind Workshops, Fortbildungen oder die immer häufiger in die Diskussion gebrachten Theaterakademien. Wir sind der Ansicht, dass diese Prozesse innerhalb des Betriebes stattfinden müssen, damit sie in die künstlerische Entwicklung der gesamten Mannschaft überhaupt einfließen können.
Deshalb schaffen wir von Zeit zu Zeit Freiräume für solche Experimente, die unter dem Titel HALBTOTALE inzwischen eine Reihe bilden. "Konzerpt" und "Hier kommt keiner lebend raus" waren die beiden vorhergegangenen Arbeiten innerhalb dieser Serie.
Halbtotale
Im Mittelpunkt dieser Halbtotale sollten die Regisseure stehen, mit denen wir kontinuierlich arbeiten. Unter ihnen wollen wir direktere Arbeitskontakte inszenieren. Normalerweise reist ja der Vorgänger gerade wieder ab, wenn der Nachfolger kommt, und die allgemeine Konkurrenzsituation trägt meistens auch nicht gerade dazu bei, dass die Regie-Kollegen offen das Gespräch miteinander suchen, wenn sie sich zufällig auf dem Dramaturgie-Flur begegnen. Wir finden das nicht nur schade, sondern schädlich. Deshalb diese HALBTOTALE.
Ein fester Text sollte als Vorlage dienen, an der sich die unterschiedlichen Arbeitsweisen reiben können. Ein Text, dessen Qualität absolut ist, um nicht bereits in Basis-Diskussionen über die Qualität des Stücks und damit zusammenhängende Subjektivitäten Steckenzubleiben. Ein Text, der sich 'zerschnipseln' lässt: Vielleicht ein Stationendrama?
"Faust"? Nein. Den deutschen Bildungsballast im Rücken und Dieter Dorns Inszenierung vor Augen – das sind keine guten Voraussetzungen für offenes, freies arbeiten. Peer Gynt? Mit diesem Stoff haben wir in der Zukunft noch Pläne.
"Ein Traumspiel"?. Ja.
Traumspiel
Dem Stück ist folgende Erinnerung vorangestellt: "Im Anschluß an sein früheres Traumspiel 'Nach Damaskus' hat der Autor in diesem Traumspiel versucht, die unzusammenhängende aber scheinbar logische Form des Traumes nachzubilden. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht; über dem unverbindlichen Wirkungsgrund spinnt die Einbildungskraft und webt neue Muster; eine Mischung von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen..."
Das hat und interessiert. Die Sprunghaftigkeit einer Erzählung, das Nebeneinander verschiedener Realitäten, Zeitsprünge, das sind Erzähltechniken, die in unserem Repertoire immer wieder auftauchen (zum Beispiel "Winterschlaf", "Weißt du, wo mein kleiner Junge ist?").
Im Traum kann man auf alles gefasst sein. Das kennt jeder. Man wird verfolgt von jemandem, der eine schreckliche Bedrohung darstellt. Man rennt und rennt und rennt, ohne auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu kommen. Im Moment größter Not gelingt es vorankündigungslos, sich zur eigenen Rettung in die lüfte zu schwingen und so der Gefahr zu entkommen.
Mit wacher Logik betrachtet ist so ein Vorgang völliger Blödsinn. Die Logik, mit der die Bilder einander folgen, ineinander übergehen oder mit der sich eine Person ohne weiteres in irgendeine andere Person verwandelt, ist nicht die Logik des Tages, sondern die der Nacht.
Man kann solche Geschichten auch als Verbildlichung seelischer Vorgänge sehen. Mit diesen Mitteln arbeitet das absurde Theater. Eine Groteske äußere Handlung dient zur Beschreibung innerer Vorgänge. Jarry, Beckett, Ionesco (der sich ausdrücklich auf das TRAUMSPIEL bezogen hat), Charms, die Autoren des absurden Theaters sind immer wieder Inspirationsquell für unsere Arbeit.
Kurz und gut: Wir wollten mit unseren Regisseuren dieses Stück als große Grabbelkiste der Phantasien und Möglichkeiten verstehen. Nicht interessiert haben uns die großen Themen, um die sich Strindbergs Stück drehen: Geschlechterkampf, Menschheitsqual, Mystik, Albtraum.
Arbeitsphasen
Aufgrund des vorgegebenen Terminplans konnten Isolde Alber, Hansjörg Betschart, Peer Boysen, Guy Cassiers und Marcelo Diaz an dieser Forschungsexpedition teilnehmen. Für alle festgelegt waren schon vor Arbeitsbeginn die Ausstattung von Andrea Spanier und die Musikmotive von Toni Matheis. Beide sollten Reibungsmöglichkeiten bieten, statt – wie bei normalen Arbeitsprozessen üblich – Zugeständnisse an die Wünsche des Regisseurs zu machen.
Die Arbeitsphasen der einzelnen Regisseure lagen zwischen 3 und 4 Wochen. Damit war klar, dass es für einzelne Gruppen keine Chance gab, ein 'ganzes' Stück zu erarbeiten. Ein kompletter Abend sollte erst montiert werden, nachdem die einzelnen 'Fetzen' erstellt waren. Aber wie?
Das Arbeitsmodell lieferten unsere Gespräche über die 'Traumtechnik'. Schnell ergab sich unter den Regisseuren das Einverständnis, dass man nichts Träumerisches erzählen wollte (was immer das auch sei zwischen Clayderman und Hamilton-Weichzeichner?) sondern sehr konkrete Geschichten, die dadurch absurd werden, dass sie einer unlogischen Logik folgen.
Peer Boysen
Peer Boysen erhielt deshalb von Beginn an einen spezifischen Auftrag von den Kollegen. Er sollte mit seinen beiden Spielerinnen Silke Nikowski und Corinna Beilharz Szenen erarbeiten, die nicht nur Verbindung zwischen den einzelnen Szenen der anderen Gruppen schaffen, sondern parallel zu diesen stattfinden konnten. Zwei Realitäten fremdartig nebeneinander statt miteinander!
Als Textmaterial hatte Peer Boysen die Strindbergschen Regieanweisungen gewählt und diese in rhythmische Sprachformen aufgelöst. Mit Satzkaskaden, die großartige Bühnenverwandlungen beschreiben, obwohl sich gar nichts ändert, sollten die beiden Schauspielerinnen die Szenen der Kollegen durchweben.
Guy Cassiers
Ihm war es vor allem wichtig, mit Schauspielern zu arbeiten, die er aus seiner ersten Inszenierung "Striche und Gekritzel" bereits kannte. Thematisch wollte e sich mit dem 'Schauen' und 'Zuschauen' beschäftigen. Ausgangspunkt war für ihn daher Szene 10 mit der Schulszene (Analogiebeweis) und dem langen Monolog des Blinden. Vor Probenbeginn hatte er die in Frage kommenden Texte zusammengeschrieben, da die Proben von Peter Ender, René Dumont und Dirk Laasch mit gelerntem text starten sollten. Die Figuren haben nichts mit Strindbergs Stück zu tun, alle drei Spieler sind Blinder, Schüler und Lehrer. Die Texte wiederholen sich in unterschiedlichen Versionen. Damit sollte die Möglichkeit der Montage gegeben werden.
Hansjörg Betschart
Er nannte als erste Voraussetzung für seine Arbeit zwei Paare (Silke Nikowski, Corinna Beilharz, Peter Ender, René Dumont). Sein größtes Interesse rief der berühmte Satz hervor „Es ist schade um die Menschen“, sowie die Figur der Viktoria.
Zu Beginn des Probenprozesses las er mit seinen Schauspielern alle Liebeszenen des Stückes, um diejenigen herauszufinden, die die Phantasie der Spieler anzündeten. Mit diesen wurde improvisierend gearbeitet.
Isolde Alber
Im Mittelpunkt ihrer Arbeit sollten die Träume der Akteure (Christoph Wettstein, Sabine Zeininger, Katarina Klaffs, Heio von Stetten) stehen. Was träume ich? Kann man Träume provozieren? Lassen sich Träume szenisch darstellen? Mit welchen Bilder? Ein weiterer Schwerpunkt war Strindbergs Pietismus. Woher komme ich? Komme ich mit einer Schuld auf die Welt? Wollte ich ins Leben oder nicht? Als Material dienten das Vorspiel und die ersten drei Szenen des Stücks. Gearbeitet wurde improvisatorisch.
Marcelo Diaz
Er war ganz stark an den Mann-Frau-Beziehungen im Stück interessiert. Aber im Gegensatz zu Hansjörg Betschart an den scheiternden, den zwanghaften Wiederholungen der immer gleichen Fehler und der Unfähigkeit, etwas zu lernen und zu verändern. Er hatte zu Probenbeginn viele kurze Sequenzen ausgewählt und mit der Aufgabe an die Schauspieler, diese szenisch umzusetzen und dabei so wenig Dialog wie möglich zu verwenden. Andere Theaterkommunikation sollte anstelle der Sprache gefunden werden.
Endspurt
Als die ersten vier Arbeiten abgeschlossen waren, tauchten Probleme auf. Peer Boysen begann seine Arbeit mit der Erkenntnis, seine Vorbereitung dem Papierkorb übergeben zu müssen.
Seine Vorgänger hatten die Freiräume in dieser Arbeit auf unerwartete Art genützt. In keiner Gruppe war etwas entstanden, was nach der bisherigen Arbeitserfahrung vorhersehbar gewesen wäre. Statt dessen lauter wunderbar anarchistische Sequenzen voller Ideenreichtum, Witz, überquellende Theatermittel, Musik, Bewegung, Gesang. Sofort war klar, dass es jetzt wesentlich wird, Strukturen für das Gesamte zu entwickeln statt weitere Verwirrungen durch Gleichzeitigkeiten auf der Bühne.
Zunächst entschied sich Peer Boysen für ganz andere Texte mit seinen Schauspielerinnen. Das Gegenteil des bisher erarbeiteten: Ruhe, Langsamkeit, Minimalisierungen wurden gesucht und gefunden (Dialog zwischen Advokat und Tochter in Szene 5). Zugleich wurde die Idee der Traumtechnik, der Parallelität von Szenen verlassen.
Wie entsteht ein Ganzes aus den einzelnen Fetzen? Wie verhalten sich die einzelnen Arbeiten zueinander? Welche 'beißen' sich? Wie tut man den anderen Regisseuren Recht? Gelingt es überhaupt, aus dem Einzelnen eine Einheit herzustellen? Viele fragen und Krisen. In dieser Zeit konnte sich Isolde Alber nicht mehr mit dem Projekt identifizieren und zog ihren Namen zurück.
Die Anregung für Schritte aus der Ratlosigkeit kam von Strindberg selber.
Ich glaube, das habe ich schon erlebt.
Ich auch!
Vielleicht geträumt?
Oder gedichtet, vielleicht?
Oder gedichtet!
Dann weißt du, was Dichtung ist!
Dann weiß ich, was Traum ist!
Ich glaube, diese Worte haben wir irgendwann schon einmal gesagt!
Dieser Dialog, der von allen Regisseuren in unterschiedlicher Form verwendet wurde, gab den entscheidenden Hinweis für die Weiterarbeit: die Wiederholung. Aus jeder Szene wurde eine ca. 5-minütige Sequenz herausgenommen, die am repräsentativsten für die jeweilige Arbeit stand, und damit konnten Peer Boysen und das Ensemble zum Endspurt ansetzen.