Haupt-Reiter
Seiten, die auf Die Geschichte von Herrn Sommer verweisen
Regie
Peer Boysen
Bühne und Kostüme
Peer Boysen
Muikalische Leitung
Toni Matheis
Es spielen
Klaus Haderer, Lucie Muhr, Florian Stadler
Geräuschemacher
Max Bauer
Dauer
75 MinutenAlter
Ab 9 JahrenPremiere
06. April 2002Ein Mann erzählt von seiner Kindheit: Von Klavierstunden mit Fräulein Funkel, vom 'Auf-die-Bäume-klettern', vom Glück und Unglück der ersten Verliebtheit… und immer wieder von Herrn Sommer. Dessen rätselhafte Erscheinung hatte immer wieder seinen Lebensweg gekreuzt, aber zu einer wirklichen Begegnung kam es nie. Und doch: Herr Sommer war immer da, als Gesprächsthema im Familienkreis oder als flüchtige Erscheinung am Horizont…
Nächste Termine
Kindheitserinnerungen
"Aber was erzähle ich hier vom Fliegen und vom Bäumeklettern! Plappere von Galileo Galileis Fallgesetzen und vom Barometerfleck auf meinem Hinterkopf, der mich konfus macht! Wo ich doch etwas ganz anderes erzählen will, nämlich die Geschichte von Herrn Sommer - soweit das überhaupt möglich ist, denn eigentlich gab es da gar keine ordentliche Geschichte, sondern es gab nur diesen seltsamen Menschen, dessen Lebensweg - oder sollte ich besser sagen: dessen Spazierweg? - sich ein paarmal mit dem meinen gekreuzt hat. Aber ich beginne am besten noch einmal ganz von vorn." (Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer)
Diese Passage aus Patrick Süskinds vermutlich autobiographisch gefärbter Erzählung von Herrn Sommer haben wir zum Ausgangspunkt unserer Inszenierung genommen. Der Weg des Herrn Sommer kreuzt gleichsam die Kindheitserinnerungen des Ich-Erzählers immer wieder an markanten Punkten.
Wie ein Schwungrad hält er das Erzählen in Gang. Herr Sommer, der selber nur am Rande der Geschichte auftaucht und kaum ein Wort spricht, liefert zugleich den Anstoß für weitläufige Abschweifungen. Wunderbar einfühlsam hat ein Autor, der eigentlich gar keine Geschichten für Kinder schreibt, die Welt eines Kindes aus den Augen eines Kindes beschrieben. Kindheit ist ihm dabei nicht jener paradiesische Ort, der so gerne von Erwachsenen im Rückblick fantasiert wird. Vielmehr fängt Süskind mit poetischer Prägnanz die Nöte, Fragen, Schmerzen und Sehnsüchte der frühen Jahre ein:
Die Geschichte
"Zu der Zeit, da ich noch auf Bäume kletterte, lebte in unserem Dorf... - oder vielmehr nicht in unserem Dorf, in Unternsee, sondern im Nachbardorf, in Obernsee - ein Mann mit Namen ‚Herr Sommer'." Herr Sommer war voller Geheimnisse. Wahrscheinlich weil man über Herrn Sommer so gut wie nichts wusste. Aber Herr Sommer war allgegenwärtig, "(...) denn Herr Sommer war ständig unterwegs. Von morgens früh bis abends spät lief Herr Sommer durch die Gegend, kein Tag im Jahr verging, an dem Herr Sommer nicht auf den Beinen war." Wozu? Wohin? Man wusste es nicht. Aber seine Erscheinung durchquerte regelmäßig die Kindheit des Erzählers, erschien am Horizont des Erlebten und setzte sich im Gedächtnis fest. Sein zufälliges Auftauchen markiert den Weg der Erinnerung. Auf seinen flüchtigen Spuren tauchen wir ein in die Welt einer Kindheit und Jugend in den 50er Jahren. Wir lernen die Familie des Erzählers kennen. Vater, Mutter, Bruder, Schwester, die beim gemeinsamen Abendessen den Fall "Herr Sommer" erörtern.
Wir werden Zeugen seiner ersten Verliebtheit in die Klassenkameradin Carolina Kückelmann und eingeweiht in die Vorbereitungen ihres ersten Rendezvous', das dann leider doch niemals stattfand. Dafür rückte just in diesem Moment Herr Sommer quer über den Horizont. Wir machen Bekanntschaft mit seiner Klavierlehrerin Marie-Luise Funkel und begleiten ihn bei der schlimmsten Klavierstunde aller Zeiten. So schrecklich, entsetzlich und empörend war diese Klavierstunde, dass er danach beschloss, sich umgehend umzubringen. Und eben, als er sich aus dem Gipfel eines Baumes 30m in die Tiefe stürzen wollte, tauchte unten der Herr Sommer auf, verhinderte durch sein bloßes Erscheinen den Selbstmord im Affekt. Schließlich wurde der Erzähler Zeuge von Herrn Sommers Verschwinden. Vermutlich ist er der einzige Mensch, der weiß, welchen Weg der Herr Sommer damals im Herbst genommen hat, einen Weg, von dem er niemals mehr wiedergekommen ist...
Talk Show
Patrick Süskinds Erzählung ist kein Theaterstück. Für unsere Arbeit war von Beginn an klar, dass der narrative Charakter bei der Umsetzung auf der Bühne erhalten bleiben sollte. Keine Bebilderung der beschriebenen Situationen (und damit eine langweilige Verdoppelung) sollte entstehen, also kam kein Umschreiben der Figuren in dramatische Rollen in Frage, sondern eine Form musste gefunden werden, die das Erzählen der Geschichte selbst, den Vorgang des Erinnerns zum Ereignis machte. Außerdem wollten wir mit der wunderbar leichtfüßigen und pointiert formulierten Sprache von Patrick Süskind arbeiten.
Diese Überlegungen mündeten schließlich in die Konzeption einer Talkshow. Die Talkshow verstanden als ein öffentlicher Ort unserer Gesellschaft für das Schauspiel (pseudo-) persönlicher Geschichten. Vor allem die Daytime-Talkshows der letzten Jahre entfalteten sich zu einem solchen Raum der Inszenierung und Simulation von privaten Alltagsgesprächen. Freilich ist der Gestus des Erzählens und die Art der Geschichten in den zeitgenössischen Fernsehtalkshows ungleich reißerischer als es der "Geschichte von Herrn Sommer" zuträglich gewesen wäre. Es hat uns daher nicht interessiert, das Zitat einer Fernsehshow im Theater zu inszenieren. Vielmehr geht es uns um die Struktur und das dialogische Prinzip der Talkshow.
Vor diesem Hintergrund hat Peer Boysen eine Theater-Talk-Show erfunden, die den geeigneten Rahmen für Süskinds Erzählung bietet. "Erzähl Du Deine Geschichte", so der Titel der Schauburg-Talkshow: Moderator Martin Stanglmeier und seine Assistentin Patricia begleiten den Kandidaten und Erzähler Siegfried Hirt bei der Erinnerungsarbeit. Episoden einer Kindheit und Jugend werden ins Gedächtnis gerufen. Die Moderatoren befördern einerseits den Redefluss und bemühen sich andererseits die Geschichte auf Kurs zu halten, wenn Hirt ins Fabulieren gerät und seine Abschweifungen überhand nehmen. Unterstützung bietet ihnen ein Geräuschemacher, der die erzählten Geschichten mit Stimmen, Geräuschen und Atmosphären lebendig werden lässt.
Geräusch und Gehör
Wir leben in einer Welt der Bilder. Das Sehen, so scheint es manchmal, ist der dominierende Sinn der Neuzeit geworden. Mit dem Hören haben wir es schwerer, oft findet die akustische Wahrnehmung unterhalb der Bewusstseinsschwelle statt. Die Geräusche der Welt sind ein offenes Geheimnis. Wir nehmen sie meistens erst dann wahr, wenn sie weg sind. Wenn wir auf dem Land oder in den Bergen feststellen, wie still es sein kann oder wie sich der akustische Raum verändert hat. "Sehrecht bricht Hörrecht (...)", so die Goethesche Wahrnehmungsformel für dieses Phänomen.
Auf der Suche nach einer adäquaten Erzählform, die die visuelle Festlegung der skizzierten Jugenderinnerungen vermeiden sollte, haben wir uns mit dieser Frage intensiv beschäftigt. Auf keinen Fall wollten wir Bilder zu den einzelnen Episoden der Geschichte zeigen. Die leichthin geschriebene, durchlässige Sprache der Erzählung macht eine Illustration überflüssig, da sie die Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen lässt. Diese Bilder wollen wir nicht zudecken. Aber einen akustischen Raum zu schaffen, der die erzählten Erinnerungen in die Gegenwart der Theateraufführung holt, schien uns ein gangbarer Weg. So haben wir uns schließlich zur Zusammenarbeit mit einem Geräuschemacher entschieden: Ebenso wie die Geräusche selbst, bleibt auch ein Geräuschemacher oft im Verborgenen. Ein Handwerker für sensible Ohren. Meist nehmen wir seine Arbeit gar nicht wahr. Etwa wenn wir einen Film sehen. Selten ist uns da bewusst, dass jeder Schritt, jedes Hände schütteln, Schlüssel rumdrehen, Kaffee einschenken, Schreibmaschine schreiben usw. künstlich ist und im nach hinein bei der Synchronisation hergestellt wird. Diesen Vorgang nehmen wir erst dann wahr, wenn sich ein Fehler einschleicht, also wenn z.B. eine Tür wie eine Schreibmaschine klappert. Man könnte sagen, dass die Perfektion des Geräuschemachers darin besteht, unbemerkt zu bleiben.
In unserer Aufführung hingegen wird der Geräuschemacher nicht nur zu sehen sein, er nimmt auch eine zentrale Rolle ein. Er ist in den Zusammenhang der Talkshow integriert und lässt die Stimmungen und Atmosphären entstehen, von denen der Kandidat erzählt. Erhöht im Bühnenhintergrund sitzt er in seiner Geräuschwerkstatt, vorne in einem großen metallenen Kubus ist seine Arbeit hörbar. So wird der Kubus zum Kristallisationspunkt des Erinnerungsvermögens, zum Gedächtnis des Erzählers. Ein faszinierendes Wechselspiel entsteht zwischen dem Strom der Erzählung und dem Raum der Geräusche und Stimmen, die aufeinander reagieren und sich wechselseitig anregen: Sprache und Geräusche treten zusammen, um spielerisch und humorvoll den Kosmos einer Biographie auszuleuchten.
Anfang und Ende
"Auf der Flucht vor dem Tod , sei der Herr Sommer", so der Erzähler. Diese Flucht strukturiert die Bewegung des Erzählens in Süskinds Geschichte. Das rastlose Unterwegssein des Herrn Sommer, seine offensichtliche Heimatlosigkeit und sein beharrliches Schweigen konterkarieren die Chronologie der erzählten Biographie: Einerseits erzählt ein Ich-Erzähler (von dessen weiteren Lebensweg wir allerdings nichts erfahren) im Rückblick vom Beginn seiner Lebensgeschichte, mit der Offenheit, Neugier, Sehnsucht und auch Leichtigkeit, die womöglich allem Anfangen innewohnt. Fast folgt die Geschichte dem Aufbau eines klassischen Entwicklungsromans, der den Prozess des Erwachsenwerdens im Spannungsfeld von Familie, Liebe und Bildung entwirft. Andererseits quert die rätselhaft stumme Figur des Herrn Sommer immer wieder die Erzählung, infiziert auf merkwürdige Weise die Biographie des Ich-Erzählers von Anfang an und wirft all jene Fragen auf, die jeder Lebensgeschichte eingeschrieben sind: War oder ist dies Leben ein Gelungenes? Was sind Kriterien dafür? Wer legt sie fest? Was ist meine Heimat? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Was würde ich anders machen, wenn ich noch einmal die Wahl hätte? Anders formuliert: Die Geschichte von Herrn Sommer stellt gleichsam spiegelbildlich zwei Biographien einander gegenüber: Eine beginnt, die andere endet. Dazwischen bleibt ein leerer Raum voller Fragen. Fragen, die unabhängig sind vom Alter des einzelnen Zuschauers...