Haupt-Reiter
Seiten, die auf Fünfzehn Schnüre Geld verweisen
Nach einem chinesischen Bühnenstück von Chu Su-Chen
Auf das europäische Theater gebracht von Günther Weisenborn
Grafik: Nach einem Motiv von Ernst Moritz Engert
Regie
Peer Boysen
Bühne und Kostüme
Peer Boysen
Mitarbeit Bühne und Kostüme
Ulrike Schlemm
Musikalische Leitung
Toni Matheis
Es spielen
Corinna Beilharz, Verena Rendtorff, Marie Ruback, Oliver Bürgin, Giorgio Spiegelfeld, Tim Kalhammer-Loew, Ullrich Wittemann, Hussam Nimr
Puppenspieler
Meisi von der Sonnau, Panos Papageorgiou
Musiker
Greulix Schrank
Dauer
90 MinutenAlter
Ab 12 JahrenPremiere
09. Januar 2007Eine Kriminalkomödie des chinesischen Theaters in dem zwei unschuldig zum Tode Verurteilte durch die Zivilcourage und den Mut eines Einzelnen gerettet werden.
Nächste Termine
Der Schweinemetzger und Trunkenbold Yu Hu-Lu hat von seiner Schwester Li-i-hua fünfzehn Schnüre Geld geliehen. Seine Tochter Su Shu-Chuan weiß, wie schlecht das Geschäft des Vaters läuft und wundert sich über die Herkunft des hohen Geldbetrags. Der Vater erlaubt sich einen üblen Scherz. Er behauptet, sie als Sklavin verkauft und dafür die fünfzehn Schnüre Geld erhalten zu haben. Die Tochter glaubt dieser Lüge des Vaters und flieht geschockt zu ihrer Tante nach Kaochiao. Als der Metzger weinselig eingeschlafen ist, erscheint Lou, genannt die Ratte, bei ihm. Dieser, ein stadtbekannter Müßiggänger und Falschspieler, entdeckt die fünfzehn Schnüre Geld und wittert sofort große Beute. Bei dem Versuch, dem schlafenden Metzger das viele Geld zu stehlen, wacht dieser auf und fällt wild schnaubend über den Eindringling her. Völlig überrascht von dieser neuen Situation greift Lou zu einem Metzgermesser und tötet den Metzger.
Su Shu-Chuan, die sich schon auf dem Weg zu ihrer Tante befindet, begegnet einem jungen Handelsreisenden, der zufälligerweise ebenfalls fünfzehn Schnüre Geld bei sich hat. Inzwischen ist der Raubmord entdeckt worden, und die ausgeschickten Leute finden das junge Mädchen und den Handelsreisenden. Die beiden werden als vermeintliches Liebes- und Mörderpaar verhaftet und vor Gericht gebracht. In einem schlampigen Indizienprozess des Richters Kuo Yu-chih und auf Grund durch Folter erpresster Geständnisse werden sie zum Tode verurteilt. Jeder Zuschauer hat gesehen und gehört, dass Unrecht gesprochen wurde. Das Todesurteil soll vor den Augen von Kuang Chung, dem Präfekten und guten Richter, vollstreckt werden. Ihm beteuern sie nochmals ihre Unschuld. Kuang Chung entdeckt eine Lücke in der Beweisführung und beschließt, den Fall noch einmal zu untersuchen. Er kämpft hartnäckig um das Leben der beiden jungen Menschen. Das ist kein leichter Kampf, denn der kaiserliche Statthalter weigert sich aus Bequemlichkeit, den Fall noch einmal aufzurollen, und der Richter Kuo Yu-Chih versucht aus Eigensucht, die Aufklärung des Mordes zu hintertreiben. Kuang Chung geht in das Dorf, in dem die Tat geschah, und entdeckt in dem Haus des Metzgers noch einige Münzen, die dem Dieb entfallen sein mussten. Damit ist die Unschuld der beiden erwiesen, denn bei dem jungen Handelsreisenden wurden vollzählige fünfzehn Schnüre Geld gefunden. Mit Klugheit und List entlarvt er den wahren Täter und führt ihn dem Gericht zu. Die beiden jungen Menschen aber, die durch ein unglückliches Schicksal miteinander verbunden und zum Tode bestimmt waren, gehen gemeinsam als Liebende ins Leben.
Die Geldmünzen in Altchina sind aus Bronze oder Kupfer und haben in der Mitte eine meist viereckige Öffnung, durch die man die Münzen auf eine Schnur aufzieht. Derartige Schnüre mit Münzen bindet man um die Taille. Fünfzehn Schnüre Geld waren vor dreihundert Jahren eine beträchtliche Summe Geld. Sie entsprachen etwa dem 30fachen Monatslohn eines Fährmanns.
Als der Autor Günther Weisenborn 1956 im Berliner Gloria-Palast für seine Mitarbeit am Drehbuch des Films „Der 20. Juli“ vom damaligen Bundesinnenminister Dr. Schröder den Bundesfilmpreis erhielt, sagte er in einem anschließendem Interview, dass er mit dem Preisgeld eine Reise nach China finanzieren will. Auf dieser Reise lernte er das altchinesische Schauspiel „Fünfzehn Schnüre Geld“ von Chu Su-Chen kennen. „Als ich im National-Theater in Peking eine Aufführung der ‚Fünfzehn Schnüre Geld’ sah, war das für mich eines der stärksten Theaterereignisse meines Lebens. Ich erfuhr, dass das Stück außerhalb Chinas bisher nur in Moskau und Tokio gespielt worden ist.“
Nach einer englischen Übersetzung fertigte Weisenborn eine Bearbeitung für die deutsche Bühne an, die 1958 im Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt wurde. Weshalb ihm diese alte Kriminalgeschichte zeitlos relevant erschien, fasste er so zusammen: „Der Kampf für eine Wahrheit fordert Mut und List.“
„Fünfzehn Schnüre Geld“ ist eine der klassischen Kriminalkomödien des chinesischen Theaters. Das Schauspiel geht bis auf altchinesische Sagen des 12. Jahrhunderts zurück. Die Hauptfigur des Stückes, der gute Richter Kuang Chung, ist eine bekannte Modellfigur der Theater in der Ming-Dynastie (1368-1644). Sie geht auf den Präfekten Pao Cheng zurück, der vom Jahre 960 bis 1027 gelebt hat und wegen seiner weisen Richtersprüche und seiner Beharrlichkeit in der Verfolgung des Unrechts bis heute in China berühmt ist. Der chinesische Dichter Chu Su-Chen schrieb als erster um 1650 einen umfangreichen dramatischen Text dieses Stückes und gestaltete daraus ein Libretto für die Konqu-Oper „Die Geschichte der Gebrüder Hsiung“, 26 Szenen umfassend.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Schauspiel oft überarbeitet und wuchs so auf 29 Szenen an. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Stück neu bearbeitet, auf 8 Szenen verkürzt und von nun an unter dem Titel „Fünfzehn Schnüre Geld“ als Konqu-Oper gespielt. Dabei muss man wissen, dass von unserem herkömmlichen Begriff Oper sich die chinesische Oper grundsätzlich unterscheidet. Diese umfasst Elemente des Sprechtheaters, des musikalischen Dramas, des Balletts und der Akrobatik in Einem. Die Trennung in Schauspiel und Oper, wie wir sie kennen, gibt es im chinesischen Theater nicht. Darüber hinaus ist die Konqu-Oper in unserem Fall nur einer der 200 traditionellen Opernstile, die man in China kennt. So wird mit der Weisenbornschen Übertragung des Stückes auf das europäische Theater aus einem ursprünglichen Musikstück (Konqu-Oper) ein Sprechstück mit geringem Anteil an Gesang.
„Bei meiner Übersetzung der englischen Fassung (...) und meiner freien Bearbeitung, die dem chinesischen Theater wie dem europäischen Theater gerecht zu werden versucht, tat ich alles, um die Spannung und die arteigene Poesie dieses klassischen Kriminaldramas zu erhalten. Das Werk liegt damit zum ersten Male unseren Theatern vor. Es wird dem deutschen Publikum Nachricht geben von der Gedankenwelt und der Poesie des großen chinesischen Volkes. Jedes fremde Drama ist für ein Publikum eine Reise in das Innere eines anderen Publikums. Möge es eine gute Reise für das deutsche Publikum werden, die es dem chinesischen Volk näher bringt.“
Hat eine so alte Geschichte uns heute wirklich noch etwas zu sagen? Geld wird nicht mehr auf Schnüre gefädelt, die Gerichte sind rechtschaffene Institutionen und die Leiter staatlicher Verwaltungen sowie die Regierungen selbst sind keine allmächtigen Herrscher mehr. Aber immer noch lauert in der ganzen Bandbreite der Gesellschaft das Verbrechen. Ob in Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur... usw., Habgier, Neid, Rücksichtslosigkeit und Streben nach persönlichem Vorteil haben Jahrtausende lang das Leben der Menschen bis heute geprägt, und es dauert womöglich länger als wir es uns wünschen, bis wir davon lassen können.
Der kaiserliche Statthalter und der Richter Kuo wären von Amts wegen verpflichtet, die Wahrheit zu suchen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie vernachlässigen diese Pflicht und sprechen Recht aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit, ohne gründliche Suche nach der Wahrheit. So sonnt sich der kaiserliche Statthalter zwar in einer gewaltigen Machtrepräsentation, eine Verbindung zum Volk hat er aber nicht mehr. Seine Entscheidungen stützen sich nur auf persönlich gefärbte Berichte seiner Beamten, nicht auf eigene Untersuchung und Erfahrung. Seine Beamten sind für ihn Werkzeuge seiner Machtausübung.
Das sind Themen, wie sie uns heutiger kaum erscheinen könnten.
Dann der Richter Kuo, der sein Amt, das ihn gezwungenermaßen mit dem niederen Volk in Berührung bringt, zum eigenen Wohlergehen ausnutzt. Wo nichts zu holen ist, fällt er das Todesurteil; denn lange Untersuchungen lassen seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen und sein genusssüchtiges Privatleben nicht zu. Außerdem: rasch „erledigte Fälle“ haben ihm Anerkennung der Vorgesetzten und Respekt der Untergebenen eingebracht.
Gegen das staatlich sanktionierte Urteil Einspruch zu erheben und den Weg der Wahrheitssuche und Rechtsfindung zu gehen - den Mut dazu bringt allein Kuang Chung, der Präfekt von Soochow, auf, weil er die Willkür der hier angewandten Wahrheitssuche und Rechtsfindung erkannt hat. Sein Rechtspruch erfolgt erst, nachdem die Täterschaft eindeutig bewiesen ist, ohne Rücksicht auf seine eigene gesellschaftliche Stellung. Beharrlichkeit, Mut und List in der Durchsetzung seiner Absichten zeichnen Kuang Chung aus. „Wenn jeder sagt: Ich bin n u r Richter, ich bin n u r Präfekt, ich bin n u r Statthalter, ich habe meine Befehle – wo bleibt da der Mensch?“ Eine gerechte Sache durchzusetzen, ist für ihn als einen Beamten des Kaisers nicht nur sehr schwierig, sondern auch gefährlich. Trotzdem macht er es, schaut nicht weg und lässt sich nicht von Instanzen, Gesetzen oder Drohungen davon abbringen, das erkannte Unrecht gegen alle gesellschaftlichen Widerstände zu bekämpfen um zwei Menschenleben zu retten: Ein gelebtes Ausmaß an Zivilcourage, dessen zivilisatorischen Wert sich jeder von uns vergegenwärtigen sollte. In einer Welt voller negativen Erscheinungen vertritt dieser Richter das humanistische Prinzip.
Um Verbrechen jeglicher Art zu beseitigen, sind alle aufgerufen, gegen Lügen, Verleumdung, Diebstahl und Gewalt anzutreten - zu Hause, in der Schule, in der Straßenbahn, bei Freunden und Fremden. Um aber gegen das Unrecht kämpfen zu können, muss man wissen, was das Unrecht ist. Das ist für Jugendliche schwerer zu lernen als manch Pisauntersuchte schulische Leistung. Aber es ist zu erlernen, wenn man sich nicht scheut, andere nach der Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen zu fragen. Vor allem aber darf man nicht scheuen, sich selbst danach zu befragen!
Der weise Richter Kuang stellt eine Frage, bevor er die Bühne verlässt: „Wird es nicht immer so bleiben, dass der Kampf für eine Wahrheit bitter und undankbar ist?“ So fragt er seit 800 Jahren. Wie die Antwort lauten wird, hängt auch von Ihnen ab.
n einem Vorwort zu dem Stück schreibt Günther Weisenborn: „Die Schwierigkeit, ein chinesisches Stück auf die europäischen Bühnen zu bringen, liegt darin, dass der klassische Theaterstil Chinas für uns nicht wiederholbar ist und dass chinesische Gesichter für europäische Schauspieler meist nicht darstellbar sind. Da jedoch sehr viele (chinesische) Stücke von allgemeiner Gültigkeit, ja sogar von Weltinteresse sind, scheint es bei einer Bearbeitung angebracht, die Fabel in den Vordergrund zu bringen auf Kosten der Folklore. Der Mensch ist interessanter als ein Rotlacktisch, die Handlung interessanter als ein Pagodendekor. Wird dem Zuschauer deutlich gemacht, dass ein bewusster Verzicht auf eine Nachahmung des chinesischen Theaters vorliegt, so wird er sich gleich in die Aufführung hineinfinden wie die Erfahrung beweist. Er wird, von der Inszenierung unterstützt, die allgemeingültige Fabel sehen, das höchstbesondere Schicksal in der höchsttypischen Situation. Er wird Menschen seiner Art erkennen und wird sie verstehen. Auf diese Weise wird er begreifen, dass am anderen Ende der Welt Menschen leben wie er.“
Peer Boysen hat diesen Gedanken in seiner Inszenierung aufgegriffen und jegliche chinesische Folklore vermieden. Er suchte zunächst den Zugriff auf das Stück über eine klare äußerliche Form, die er vor allem aus den Figuren heraus entwickelte. Diese sieht man in Kostümen und Perücken agieren, die durch ihre sichtbare äußere Überhöhung einem natürlichen Realismus geradezu entfliehen und so in dieser extremen Überzeichnung Auskunft über den jeweiligen Charakter geben.
Das Bühnenbild verhält sich dagegen als Kontrapunkt: Eine Bretterbühne mit drei zu bewegenden Gardinen, durch die sich verschiedene Räume herstellen lassen. Erst im Laufe der Probenarbeit stellte sich heraus, das man sich, was diese Raumidee betraf, immer mehr den chinesischen Raumlösungen annäherte. Diese kennen überhaupt kein Bühnenbild und können durch verschiedene bewegliche Vorhänge Veränderungen jeglicher Art anzeigen. Das ist die Grundstruktur aller chinesischen Theateraufführungen.
Aus dieser Melange von überzeichneten nichtrealistischen Kostümen/Masken und einer klaren sachlich abstrakten Raumlösung entstanden jene phantastischen, schreiend bunten Bildwelten, denen man sich nur schwer entziehen kann und für die Peer Boysen auf einer Vielzahl deutscher (Opern) Bühnen bekannt ist.
Zusammengehalten wird die Inszenierung durch eine spielerische Musikalität der Szenen, die von einem virtuosen Musiker unterstützt werden, der mit seinem Instrumentarium über dem ganzen Geschehen thront.
Neben Kostüm/Maske, Bühnenbild und Musik gibt es bei dieser Arbeit von Boysen noch ein viertes inszenatorisches Element – Puppen. So treten Handpuppen auf, deren Puppenköpfe so groß wie Menschenköpfe sind, der Unterleib aber nicht über die Größenverhältnisse von Kinderpuppen hinausgeht. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers gibt es auch in anderen Konstellationen: So tritt ein Schauspieler auf, dem man zwar seinen realen Menschenkopf ansieht, der aber mit Puppenbeinen seiner Figur einen unglaublichen Sog verleiht. Und von der Magie des auftretenden gutmütigen blinden Riesen sei hier in diesem Zusammenhang nur kurz berichtet.
Der Suspense, der dabei aus dem Zusammenspiel von Sprache, Bildern, Kostümen, Gesang, Licht und Musik entsteht, erzeugt eine Spannung, die einen wohlig Schauern und befreiend Lachen lässt.
So erschließen sich die Inszenierungen von Peer Boysen hauptsächlich durch das Betrachten der Totalen, des Theaterbildes als Ganzes, natürlich veredelt mit allen zur Verfügung stehenden sinnlichen Theaterelementen. Es gibt Momente, da ist das Bild so stark, dass man es, eingefroren, in irgendein Museum hängen könnte. Es gibt schwerlich intensivere Theaterbilder.
Boysens Zugriff auf eine einzelne Figur ist der eines Menschenbeobachters. Das heißt, die Lächerlichkeit des Äußerlichen und die eigentliche Tragödie hinter der Oberfläche der Figuren, schwingen bei ihm als unberechenbares lustvoll-taumelndes Pendel unsichtbar hin- und her.
Aber eigentlich will er Geschichten erzählen, die für jeden verständlich sind. In inszenierten, künstlichen, überzogenen und phantasievollen Bildern, denn, angelehnt an einen Ausspruch des Fotographen LaChapelle, kann man über Boysens Bühnenästhetik sagen, „Wer Realität will, soll den Bus nehmen.“
„Dichter sein, heißt die Menschen bewegen, ihr Leben zu ändern.“ Das gilt auch für den bewegten Lebensweg von Günther Weisenborn:
Weisenborn wurde am 10. 7. 1902 in Velbert (Rheinland) geboren. Bevor er Schriftsteller wurde, studierte er 1922/27 in Bonn Germanistik, Medizin und Philosophie. Gleich sein erstes Bühnenstück das Antikriegsstück „U-Boot S4“ (mit Heinrich George), das die Freie Volksbühne Berlin 1928 zur Uraufführung brachte, war ein Erfolg. Das Stück wurde parallel mit der Berliner Aufführung in sechs weiteren deutschen Städten gleichzeitig uraufgeführt. In Berlin arbeitete der 22jährige Weisenborn fortan mit allen Theatergrößen der Weimarer Republik zusammen: Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Elisabeth Hauptmann, Erwin Piscator und vielen mehr. Anfang der 30er Jahre bekam Weisenborn von der Witwe Maxim Gorkis die Rechte an Gorkis Roman “Die Mutter“. Seine Absicht war, daraus eine dramatisierte Bühnenfassung zu machen. Nachdem Brecht davon Wind bekam, fragte dieser Weisenborn, ob sie diese Bühnenadaption nicht gemeinsam machen sollten. 1931 begannen die beiden dann gemeinsam mit Slatan Dudow an einem Bühnendrama „Die Mutter“ nach Gorkis gleichnamigem Roman zu arbeiten.
Kurz darauf wanderte er nach Argentinien aus, wo er auf einer Farm in Missiones lebte. Er kehrte jedoch nach einiger Zeit wieder nach Berlin zurück. Hier wurden seine Werke 1933 von den Nazis verboten und öffentlich verbrannt. Wieder wanderte er aus, diesmal in die USA, wo er in New York als Lokalreporter tätig war. Ein Jahr später kam er nach Berlin zurück.
Die folgenden Jahre führt Weisenborn ein Doppelleben: Einerseits arbeitet er als Schriftsteller, als Dramaturg am Schiller-Theater unter Heinrich George, als Leiter der Kulturredaktion beim Großdeutschen Rundfunk und als literarischer Vertreter der Filmfirma Metro-Goldwyn-Mayer. Andererseits, nach einer Begegnung mit Schulze-Boysen, schließt er sich der antifaschistischen Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ an und kämpft im Untergrund gegen Hitler.
1942 wird Weisenborn von der Gestapo verhaftet. Vor dem Reichskriegsgericht wurde er wegen Hochverrat zum Tode verurteilt. Nur ein unglaublicher Zufall bewahrte ihn vor der Vollstreckung: Sein Zellennachbar, einer der vielen, die mit der Widerstandsgruppe aufgeflogen waren, hatte der Gestapo berichtet, dass er Weisenborn auf einem, von der Gestapo als konspirativ eingestuften Treffen gesehen hatte. Diese Aussage hatte gereicht, ihn zum Tode zu verurteilen. Dem Zellennachbarn selber war das Ausmaß dieser Aussage gar nicht bewusst. Nur durch Zufall nahmen sie sich in ihrer Einzelzelle wahr, und mit Klopfzeichen verständigten sie sich über ihre Lage. „Deine Aussage ist mein TU“ (Todesurteil) soll Weisenborn ihm zu verstehen gegeben haben. Das führte dazu, dass Weisenborns Zellennachbar seine Aussage bezüglich dieses Treffens zurücknahm und in Folge dessen das Todesurteil gegen ihn in 10 Jahre Festungshaft umgewandelt wurde.
Sowjetische Soldaten der Roten Armee befreien ihn Ende April 1945.
Nach seiner Befreiung 1945 übte er vorübergehend die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters von Luckau bei Berlin aus. Auf einer Lokomotive erreichte er Berlin und gab dort die satirisch-literarische Zeitschrift „Ulenspiegel“ heraus, wurde Mitbegründer des Hebbel-Theaters und dessen Chefdramaturg. Sein Drama „Die Illegalen“, 1946 in Berlin uraufgeführt, wurde ein großer internationaler Erfolg und in 10 Sprachen übersetzt. Auch sein dramatisches Ballett vom „Eulenspiegel“, das 3 Jahre später zur Uraufführung kam, konnte seine Bühnenwirksamkeit im In- und Ausland behaupten.
Ab 1951 war er Chefdramaturg der Kammerspiele in Hamburg. Vortragsreisen führten ihn nach Paris, Asien (UdSSR, China, Burma, Indien) Prag, Warschau und London. Weisenborn engagiert sich immer wieder als Pazifist gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und warnte vor der atomaren Bedrohung. Von 1964 an lebte er in Westberlin.
Weisenborn war Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg, der Dt. Akademie der darstellenden Künste Frankfurt/M. (auch ihr Mitbegründer), korrespondierendes Mitglied der DAK, des PEN-Clubs und der europäischen Schriftstellervereinigung COMES; er erhielt den Preis der Académie des Hespérides (Paris).
Zu seinen späteren Arbeiten für den Film gehören Dokumentationen des Widerstands im NS-Reich und in der DDR, aber auch das Drehbuch zur Verfilmung von Brechts „Dreigroschenoper“.
Günther Weisenborn starb am 26. 3. 1969 im damaligen Westberlin.
Außer den schon genannten Werken wurde Günther Weisenborn bekannt durch seine Bühnenwerke „Die Neuberin“, „Babel“, „Die Ballade vom Eulenspiegel“, „Das verlorene Gesicht“, „Zwei Engel steigen aus“ und seine Romane und Erzählungen wie „Das Mädchen von Fanö“, „Die Furie“ und „Memorial“.
Weisenborns Werke sind in 18 Sprachen übersetzt und haben eine Auflage von 1,5 Mill. Exemplaren überschritten.
Auszug aus Weisenborns Gesamtwerk: „SOS oder Die Arbeiter von Jersey“ (1929, Tr.); „Barbaren“ (1931, R.); „Warum lacht Frau Balsam?“ (1932, K., zus. mit R. Huelsenbeck); „Die einsame Herde“ (1937, E., u. d. PS. Ch. Munk); „Die guten Feinde“ (1937, Seh. um R. Koch u. M. Pettenkofer); „Der Landarzt“ (1938, Dr.); „Traum und Tarantel“ (1938, E., u. d. PS. Ch. Munk); „Die Silbermine von Santa Sabina“ (1940, R.); „Babel“ (1947, Seh.); „Das Spiel vom Thomaskantor“ (1950, Sp. um J. S. Bach); „Die span. Hochzeit“ (1952, Seh.); „Drei ehrenwerte Herren“ (1953, K.); „Zwei Engel steigen aus“ (1954, K.); „Die Reiherjäger“ (U. 1955, Hsp.); „Der Tatbestand“ (U. 1955, Hsp.); „Das Klavier des Prokuristen“ (o. J., Hsp.); „Der 20. Juli“ (1955, Film, zus. mit J. Lüddecke); „Der dritte Blick“ (1956, R.); „Jangtsekiang“ (U. 1958, Hsp.); „King's Trabanten“ (e. 1958, auch u. d. T. „Die Familie von Nevada“ oder „Die Familie von Makabah“, 1964, gedr. u. d. letzteren T. 1967); „Schiller und das moderne Theater“ (1959, Vortr.); „Fünfzehn Schnüre Geld“ (1959, Sch. nach Chu Su Chen); „Am Yangtse steht ein Riese auf“ (1961, Rb.); „Barbara“ (1961, Film nach J. F. Jacobsen); „Dreigroschenoper“ (1963, Film nach Brecht, zus. mit W. Staudte); „Das Glück der Konkubinen“ (U. 1965, urspr. Titel „Li – lifan“, gedr. 1967, K.); „Unternehmen Walküre - 20. Juli 1944“ (Urlesung 1966, Seh.); „Die Haut und das Messer“ (U. 1970, Hsp. nach „Memorial“); „Wie geht es Ihnen?“ (1971, Prosa). - Ausg.: Historien der Zeit (1947, enth. „Babel“, „Die guten Feinde“, „Die Illegalen“); Dram. Balld. (1955, enth. „Eulenspiegel“, „Die Neuberin“, „Die Illegalen“); Theater (1964/67, 4 Bde.).
"1: Theater: Das ist ein erhöhter Ort, auf dem einige Menschen sich bestimmten Veränderungen unterziehen, um vor einer Menge ein erdichtetes Gleichnis als Handlung darzustellen.
Theater: das kann Kirche oder Kirmes sein, Laboratorium, Baumschule oder Operationssaal; aber immer ist es ein Ort der Veränderung.
Das Theater erinnert an einen Papin’schen Topf, der abends erhitzt wird. Die Zuschauer werden unter beträchtlichen Druck gesetzt, komprimiert, chemisch verändert, ergriffen und geläutert. Das geschieht in Calcutta, Nowosibirsk, Tokyo, Birmingham, Neapel, Berlin und Paris. Dabei spielen im Gegensatz zu den schwerfälligen, breithüftigen Großbühnen oft die kleinen Theater eine bedeutende Rolle. Sie gehen selten den bequemsten aller Wege, nämlich eine Museumsbühne oder ein Konsumtheater zu werden, das risikolos Erfolgsstücke anderer Bühnen nachspielt. Diesen glückt es nur selten ein eigenes Gesicht und ein Spielplanbewußtstein zu entwickeln.
Am Spielplan erkennt man die Theater. Heutzutage unterscheidet sich die Qualität der Aufführungen in München, Berlin oder Frankfurt im allgemeinen wenig auf der jeweiligen vergleichsebene. Oft sind es sogar in verschiedenen Großstädten dieselben Regisseure und dieselben Stars, die die Qualität einer Aufführung normen. Die Spielplantheater dagegen sind es, die seit Brahm Theatergeschichte machen. Die wagemutigen Spielpläne, die Urafführungsrisiken, die geistige Energie, die artikulierte Eigenart des eigenen Gesichts, das sind immer seltene Qualitäten in der Welt gewesen.
In diesen kleinen Theatern gibt es wenig routinierte Brillanz, wenige Stars, wenig modischen Bluff, kaum Dekorationseffekte, kleine clever hochgejubelten Sensationspremieren mit Erfolgskalkül, verstrickt und vertrackt. Es gibt heutzutage wenige Begriffe, die so rar geworden sind wie das Wort ‚Eigenart’, da die Flut des Konformismus steigt, individuelle Impulse zermahlen werden und die experimentarme Einordnung allgemein wird.
2: Wenden wir uns also den bei uns vorherrschenden dramatischen Strömungen zu. Da ist zunächst die traditionelle Dramaturgie. Die Einheiten. Das Triangel, Handlung und Katharsis. Das alles ist seit den französischen Klassizisten, seit Lessing formuliert und liegt einfach als historische Erscheinung vor. Sie sei nicht unser Thema.
Das ist weiter das absurde Theater, das eine oder mehrere Stützen der Realität wegschlägt und auf diese Weise fremdes Licht, Kurzschlüsse und das in Fragestellen unseres Daseins. Es entwickelte sich ein hochintellektuelles Theater. Aber eine Dramatik für Intellektuelle ist für Andere nicht immer reizvoll, und die Menschheit besteht vorwiegend aus Anderen. Dieses in Frage stellen ist immer eine wesentliche Aufgabe aller Kunst gewesen. Aber wenn es zur leeren Mode wird, wenn ein ranziger Mittelsstandzynismus hofiert wird, dann ist es Zeit, die Achseln zu zucken, vor allem wenn das absurde Theater vor langen Jahren in Paris erkämpft und bei uns brav nachgeahmt wurde.
Ich habe immer eine Abneigung gegen Landschaftsmalerei gehabt, auch auf der Szene, besonders wenn sie mit vollem Pinsel die Leere malt. Ich bin der veralteten Meinung des Aristoteles, dass Drama Handlung heißt. Eine Schrumpf-Story mit Schwundkonflikt ersetzt nur wenig. Im Zuge der großen Entdecker Freud und Joyce montieren diese Autoren mit gekonnter Symbolschlosserei, mit der Lust am Absurden, mit ehrwürdiger Erschockung ihre grauen Gartenlauben aus dem Trauma. Der Schock, ein uraltes dramaturgisches mittel, wurde zur szenischen Krücke des Zynismus, in einer Zeit, die ‚keine Experimente’ fordert. Heute bedeutet diese Anti-Literatur, dieses Anti-Theater nicht mehr Rebellion. Es ist müde geworden. Die Zündungen geben nur noch Qualm. Sie sind bei allem Zynismus steril. Absurdität um ihrer selbst Willen scheint dem scharfäugigen Beobachter modisches Rauschgold, manche dieser Stücke sind Sackgassenromanzen, Allegorien subtiler Selbstbeweinung, manches ist ‚nihilistischer Realismus’, Warten auf die Stund Null mit Symbolhybris, perfekt szeniert. Aber die Stunde des Absurdismus geht bereits zu Ende. Nach Jahrzehnten goldener Konjunktur ist dem absurden Theater heute ein altmodischer Nachgeschmack nicht abzusprechen. Es gibt Träume, die sauer werden.
Aber die Autoren, die solcherart sich mit unserer Welt bitterlich auseinandersetzen, sind mir auf jeden Fall lieber als das biedere Gelichter von Leisetretern, von Feldlerchen und Konform-Dramatik und von den Eiertänzern der Nichtaussage, die bei uns allzu oft, allzu laut zu Worte kommen.
Das Wort vom ‚Volk der Dichter und Denker’ entstammt – wie bekannt – einem Missverständnis. Ein geschwollenes Dasein in Vereinsreden fristend hat überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Die Literatur hat in unserem Volk kaum Einfluß gehabt. Unser Volk lebt nahezu literaturlos dahin. Wenn man schon vereinfachen will, sind wir allenfalls ein Volk von Geschäftsleuten und Technikern, auf keinen Fall aber ein Volk der ‚Dichter und Denkern’. Nach der Umfrage der Meinungsinstitute lesen die Deutschen weniger als andere Völker Europas. Nirgendwo sonst sind Dichter und Schriftsteller seit Jahrhunderten so schrecklich behandelt worden wie in Deutschland. Dichtung entstand bei uns immer...trotzdem.
3: In der deutschen Dramaturgie finden wir eine eigentümliche Erscheinung. Es fehlt ihr an Weltblick, an Vergleichsmöglichkeiten.
Ein Riesenkomplex wie die Literatur Asiens z.B. ist bei uns fast unbekannt. So kommt es, dass man sich bei der Betrachtung des chinesischen Theaters gelegentlich an einen Autor hält, der sich gleichfalls mit der Dramaturgie des asiatischen Theaters befasst hat. Man verwechselt den Herold eines Königs mit dem König selber. Als ich ein chinesisches Stück für die europäische Bühne bearbeitet hatte, schrieben einige Ahnungslose in ihrer Theaterkritik: Es handle sich um eine Abart von Brechts epischem Theater.
Nun hat Brechts episches Theater außergewöhnlich viel mit dem Theater Chinas zu tun, nur das Theater Chinas ist ein wenig älter, wie man hört. Ich war erstaunt in China überall ‚epische Theater’ anzutreffen. Brecht selbst hat nie verheimlicht, dass wesentliche Elemente seines epischen Theaters aus Asien stammen wie die ‚Episierung’ der Schauspieler, ihr Danebenstehen, ihre Präsentation, die Verfremdung, die denkende Kühle, das stehende Licht und die ‚Brecht-Gardine’, die die typische Zwischengardine fast aller chinesischen Theater darstellt. Aber auch gewisse Elemente der ‚nicht-aristotelischen Dramaturgie’ kommen aus der Szene Chinas.
Dies ist eine Tatsache. Man mag überrascht darüber sein oder nicht, aber man muß sich mit ihr auseinandersetzen. (Das Verdienst Brechts besteht viel eher darin, dass er die uralte Technik des epischen Theaters bei uns einführte, sie mit der dialektischen Denkweise zusammenschmolz und auf diese Weise eine neue Legierung schuf.)
Wenn ich nun bei einer Bearbeitung einen chinesischen Stoff verwende, so wäre es durchaus falsch ihn nach den Gesetzen unserer Dramaturgie zu behandeln. Es ist durchaus notwendig, einen chinesischen Stoff nach den Gesetzen eines chinesischen, also epischen Theaters anzulegen.
Wenn ich bei den 'Fünfzehn Schnüren Geld' also ‚episches Theater’ schrieb, so hatte das sehr wenig mit brecht zu tun, aber sehr viel mit dem chinesischen Theater. Das ist immerhin zweitausend Jahre alt und die geschlossenste Theaterform der Welt. Größe und Schönheit des chinesischen Theaters sind aller Bewunderung wert. Hier ist die Quelle. Aber habe ich – an der selben Quelle trinkend wie Brecht – deswegen bei ihm eine Anleihe gemacht? Genau das aber sagte man. Er hat die chinesische Technik zu einem neuen, in Europa anwendbaren System politischen Theaters entwickelt und auf diesem Weg Stücke nach Plan hergestellt, ich habe die chinesische Technik verändert, um einige chinesische Stücke der europäischen Öffentlichkeit in ihrer arteigenen Poesie vorstellen zu können.
Niemand wird mir vorwerfen können, dass ich Brechts Werk schmälern will, wenn ich gewisse Rangordnungen der Dramaturgie deutlich mache. Das chinesische Theater ist das epische Theater. Ich war und bin ein freund Brechts, mit dem ich viele dramaturgische Diskussionen hatte. Heute ist die Bewunderung für ihn allgemein. Aber ist es nicht so, dass wir in Deutschland dazu neigen, in der Bewunderung allzu rasch allzu unscharf, also kritiklos zu werden? Auch der bewundernde Blick benötigt Randschärfe.
Heißt es nicht sofort ‚Anleihe bei Brecht’, wenn episches Theater gemacht wird? Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für andere Autoren. Wer spricht von China, wer spricht von Mei – lan – fan, mit dem Brecht in Hollywood Gespräche hatte. Wer spricht von Hans Eisler, von Piscator, die an der Übertragung des epischen Theaters nach Europa beteiligt waren.
Das chinesische Theater ist eine unbekannte Größe, seine epische Schönheit ist außerordentlich, aber seine Übertragung in unsere Welt ist nicht ganz einfach.
Ich habe in Peking im Nationaltheater ein besonders interessantes Stück aus dem 16. Jahrhundert gesehen. Bei dessen Bearbeitung für das europäische Theater wurden mir viele kleine Unterschiede der chinesischen und europäischen Dramaturgie bewusst. Das chinesische Drama ist episch, und das chinesische Drama ist moralisch. Das Gute überwindet das Böse, das Sanfte überwindet das Harte.
Bei der Bearbeitung stand ich vor einem Problem. Hätte ich das Stück nach den Gesetzen des chinesischen Theaters bearbeitet, so hätte man es nach den Gesetzen des chinesischen Theaters spielen müssen. Das ist unseren Schauspielern unmöglich. Aber ich konnte auch einen chinesischen Stoff nicht nach den Gesetzen der europäischen Dramaturgie behandeln. Ich entschloss mich auf einer genauen Linie soviel als notwendig chinesische Dialog- und Szenenformen zu verwenden, um so einen weltgültigen Stoff in seiner Eigenart, jedoch für uns verstehbar, auf das europäische Theater zu bringen. Es war eine aufregende Arbeit, nicht wegen des Dialogs, sondern weil die Chinesen eine andere moralische Wert-Skala haben als wir. Bei uns ist der Held, besonders der moderne, ein liebenswerter Draufgänger. Der chinesische Held entspricht diesem Bilde nicht ganz. Sehr oft ist der junge Gelehrte die zentrale Rolle, der Held ist meist sanft und zäh. Mut und Kraft gehen nach meinem Eindruck auf dem chinesischen Theater immer ein wenig mit einer gewissen Beschränktheit zusammen. Der Listenreiche gewinnt vor dem Starken, das Sanft überwindet das Harte. Einem Europäer fällt auf, dass der besiegte Held manchmal am Boden liegt mit einem ausgestreckten, zitternden Bein. Flehend ringt er die Hände, während die Siegerin, z.B. eine Kriegerin mit erhobenem Schwert auf sie eindringt und ihn schließlich begnadigt.
Viele Varianten der Verhaltensweise waren in 'Fünfzehn Schnüre Geld' zu prüfen, und auch in der Komödie 'Li-Lifan', die ich soeben bearbeitet habe. Aber ich will hier nicht von der künstlerischen Seite dieser Theater sprechen, sondern zunächst vom Publikum.
4: In China ist das Theater eine so lebendige Institution des Volkes, dass man voller Erstaunen die sitzende Öffentlichkeit dort mit dem bürgerlichen Abonnentenpublikum bei uns vergleicht. Dort ist es wirklich die Öffentlichkeit mit Kind und Kegel, die für 20 – 50 Pfennig ins Theater zieht, die rauchende, kauende, ungenierte Öffentlichkeit, der Jedermann, der mit der Mütze auf dem Kopf leidenschaftlich dem Theater folgt. Bei uns ist es vornehmlich das wohlerzogene, organisierte Bürgertum, das einen bestimmten wohlgeordneten Spielplan der Mitte erzwingt.
In Deutschland bekommen die Theater zwar beträchtliche Subventionen, aber gerade diese Gelder sind gerade die Ursache für den mittleren, stark nach rückwärts gewandtem Spielplan unserer Theater. Die Theaterausschüsse widersetzen sich oft aus fiskalischen oder aus Proporzgründen dem Experiment.
Fast immer setzt sich der Dramatiker das Ziel, sein Publikum zu beeinflussen. Verfolgt er dieses Ziel zu direkt, spricht man von Tendenzstücken.
Von jenen Autoren, die den Sinn des Theaters in der Veränderung des Menschen sehen, wie Brecht, Büchner, Shaw auf der sozialistischen, oder Paul Claudel, Calderon, Christopher Fry auf der katholischen Seite, gibt es dramatische Autoren, die absichtsloses Theater schreiben. Aber auch diese wollen fast immer der Menschheit den Spiegel vorhalten. In Europa gibt es heute starke Theaterimpulse. In Paris hat Jean Vilar ein Theater neuen Typs aufgebaut mit nicht geordneten Dekorationen, ein Volkstheater, das neue Wege geht.
Ein wesentlicher Impuls ist die Idee Julliens, in Paris 'Weltfestspiele des Theaters' aufzubauen.
Felsenstein hat dem europäischen Musiktheater neues Leben gegeben. Und schließlich gehört dazu die dramaturgische Reformation, die augenblicklich das deutsche Theater bewegt, und die in Dramaturgenkonferenzen, in der Gründung von 'Dramaturgischen Kollegien', von 'Lektürenbühnen', von Werkstatt-Theatern ihren Ausdruck findet. In diesem Zusammenhang sei mir erlaubt auch auf die 'Ortlose Dramaturgie' hinzuweisen.
Das europäische Theater ist außerordentlich vielgestaltig, formenreich, ja, seine Experimente dienen wesentlich der Erprobung neuer Formen. Ich habe Theater in vielen europäischen, aber auch in nord- und südamerikanischen und indischen Städten gesehen.
5: Wie sieht das Theater in China aus?
Das chinesische Theater ist das älteste lebende Theater in der ältesten Kultur der Welt. Es gibt heute etwa 2000 Theater in China.
Ich sah viele Aufführungen, und zwar in Peking, Shanghai, Canton, Tschung-king, Wu-han und in Tschengtu, einer 2-Millionenstadt westlich von Tschung-king in Kunming und Lo-yan. Die chinesische Theaterkunst ist ihrer Herkunft nach mit dem Lied und dem Tanz des Volkes eng verwandt. Das älteste Denkmal der chinesischen Literatur 'Das Buch der Lieder', I-Ging, zeigt, dass bereits um das Jahr Tausend vor Christus in China kultische Gesangs- und Tanzzeremonien, ausgeführt von Priesterinnen, die Geisterbeschwörungen begleiteten. Im achten Jahrhundert vor Christus hören wir erstmalig von Sängern und Tänzern an Fürstenhöfen. Während der Zeit der Drei Reiche, das ist etwa im Jahre 250 nach Christus, waren bei Hofe Vorstellungen üblich, bei denen neben Gesang und Tanz auch der Spaß zu seinem recht kam. Das Singspiel, dem eine Handlung zugrunde liegt, entstand um 500. Die erste Schauspielschule wurde von dem Tang-Kaiser Ssüang-Dsung in der Mitte des 8. Jahrhunderts begründet. So ist „Der Birnbaumgarten des Kaisers Hsüan-Tung“ aus dem Jahre 713 überliefert. Die ersten Schauspielertruppen zogen um das Jahr 1000 bereits durch China. Sie bilden die Urform des chinesischen Theaters.
Das klassische Theater in China kennt nicht die Einteilung in Oper, Schauspiel, Operette und Tanz. Das chinesische Theater kennt nur Vorstellungen, in der alle diese vier Gattungen enthalten sind und dazu die Akrobatik. Man hat sich daran gewöhnt, dieses Gesamtkunstwerk 'Oper' zu nennen. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich etwa 200 verschiedene Opernstile gebildet, von denen einer der Stil der Peking-Oper ist. Der Name 'Peking-Oper' besagt nicht, dass diese Truppe nur in Peking spielt. Es gibt auch Peking-Opern in anderen Städten.
China ist der älteste lebende Staat der Welt. In ihm leben heut mit rund 700 Millionen Menschen das größte Volk der Welt, das übrigens jedes Jahr um rund 15 Millionen Menschen zunimmt. Es ist also vorauszusehen, dass wir in absehbarer Zeit die Erde mit einer Milliarde Chinesen teilen müssen. Auch die Größe des Landes wird bei uns stets unterschätzt. Wenn wir die Größenverhältnisse auf Europa übertragen und die Nordgrenze bei Island annehmen, so müssen wir die Südgrenze in der Sahara suchen. Nehmen wir die Westgrenze bei Gibraltar an, so befindet sich die Ostgrenze hinter dem Ural. Dieses Quadrat entspricht in seinen Größenverhältnissen etwa denen Chinas. Zusammengehalten wurde das riesige Volk durch die Schrift, die seit 2000 Jahren nahezu unverändert ist.
Kehren wir zum Theater zurück.
Das chinesische Theater kennt fast keine Dekoration. Es besteht einfach aus einer fast leeren Bühne, die durch eine graugrüne Zwischengardine quer zum Zuschauerraum geteilt ist, so dass stets einige kleinere Szenen vor dem Zwischenvorhang spielen, während die Hauptszenen bei geöffnetem Zwischenvorhang zu sehen sind. Diese Einrichtung hat den Vorteil, dass längere Pausen fast immer vermieden werden können, auf der Bühne befindet sich stets das gleiche Mobiliar, nämlich ein Tisch und zwei bis drei Stühle. Diese Möbel sind mit roter Brokatseide überzogen. Das ist im Allgemeinen die gesamte Dekoration für die klassischen Stücke. Das chinesische Publikum, das am Bühnengeschehen sehr aktiv teilnimmt, hat eine Dekoration, wie wir sie kennen, nicht nötig. Es besitzt genügend Fantasie, um sich das jeweilige Schloß, die Gebirgsschlucht, den Thronsaal oder eine andere Dekoration entsprechend vorstellen zu können. Diese leere Bühne wird außerordentlich belebt durch die reichen und prunkvollen Kostüme und die buntgeschminkten Masken der Schauspieler. Nicht selten geschieht es, dass Bühnenarbeiter irgendwelche Dekorationsstücke während der Aufführung auf die Szenen bringen oder wegtragen.
Während der Vorstellung ist das licht gleichbleibend hell. Es arbeitet nicht, verändert also nicht seinen Charakter. Stimmungen werden etwa nicht durch Lichtveränderungen erzeugt.
6: Kommen wir zu den Schauspielern:
Im klassischen chinesischen Theater, und fast 90% aller Stücke, die heute auf dem chinesischen Theater gespielt werden, sind klassische Stücke, das heißt, alte Meisterwerke, von denen etwa 300 Opern sich aus der Geschichte erhalten haben.
Im klassischen Theater Chinas gibt es fünf Rollentypen. Es gibt die S c h ö n g, positive männliche Rollen, meist junge Gelehrte. Der junge Gelehrte, der Dichter, der Wissenschaftler spielt eigentlich die Hauptrolle des jugendlichen Helden auf dem Theater.
Zweitens gibt es die Dan, es sind weibliche Rollen. Der dritte Rollentypus ist der Djin. Er umfasst meist die Vertreter der militärischen Macht, Generäle, die mit außerordentlicher Pracht auf der Bühne erscheinen. Die Zahl der Fahnen, die auf ihren Schultern wehen, zeigen die Zahl ihrer Armeen. Ein riesiger Djin, ein schwarzer General, hat einen leidenschaftlichen Monolog. Er unterbricht sich und winkt in die Kulisse. Ein Diener erscheint mit einer Tasse Tee, die der schwarze General genussvoll leert. Der Diener verschwindet, der General setzt seine Szene fort. Viertens gibt es Tschou, es sind die komischen Rollen, teils Diener, teils lustige Schurken. Man erkennt sie daran, dass sie eine kleine weißgeschminkte Brille über der Nase tragen.
Der fünfte Typ sind die Mo, die Nebenrollen.
Diese fünf ständigen Rollentypen sind in jeder Oper zu beobachten. Jede dieser Figuren hat eine festgesetzte Stimmfärbung, eine bestimmte Haltung des Körpers und der Hände, sowie eine vorgeschriebene Gangart. Der General hebt den Fuß ziemlich hoch und setzt die Füße auswärts, so dass ein eigentümlicher Gang entsteht. Früher wurden alle Rollen von Männern gespielt, das ist bekannt. Heute sieht man oft Frauen auf der Bühne. In Shanghai gibt es heute sogar ein reines Frauentheater.
Der chinesische Schauspieler muß Sänger sein, Artist, ja Akrobat und er muß die Summe der in Jahrhunderten festgelegten Bewegungen beherrschen. Der Schauspieler studiert also das Bewegungs- und Stimmregister eines einzelnen Rollentyps und spielt diesen dann sein ganzes Leben lang.
Die uralte Tradition des Theaters wird aus einer kleinen Anekdote erkennbar, die der Historiker S’Ma-chien, der um das Jahr 100 vor Christus lebte, von einem damaligen Hofschauspieler berichtet:
'Im Staate Tschu lebte ein Schauspieler Namens Meng. Er stand im Dienst des Königs. Seine Zunge glich einem Schwert. Er verstand die Menschen mit seinen Scherzen zum Lachen zu bringen, aber auch verstand er mit seinen Witzen Abhilfe von Missständen zu schaffen. Der große Minister Sun achtete Meng sehr hoch. Als der Minister sein Ende herannahen fühlte, befahl er seinem Sohn, Meng aufzusuchen, falls er einst in Not geraten sollte. Nach dem Tode des Ministers verarmte der Sohn im Verlaufe weniger Jahre. Es ging ihm so schlecht, dass er Brennholz verkaufen musste, um sein Leben zu fristen. Eines Tages begegnete er dem Schauspieler Meng. Er vertraute dem Schauspieler an, was der Vater ihm befohlen hatte. Der Schauspieler dachte nach, dann borgte er sich die Kleider und den Hut des Ministers aus und ging fort. Nachdem er ein Jahr lang Haltung und Sprechweise des verstorbenen Ministers geübt hatte, beherrschte er die Bewegungen, den Gang und die Stimme des Ministers Sun in vollendeter Weise. Nun trat er eines Tages in dieser Verkleidung vor den König, als dieser seinen Geburtstag feierte und wünschte ihm Glück und Gesundheit. Der König aber erschrak furchtbar, denn er vermeinte, der Minister sei von den Toten auferstanden. Nachdem alles aufgeklärt war, bot er dem Schauspieler für die vollendete Nachahmung des Ministers dessen Amt an. Der Schauspieler lehnte jedoch höflich ab und verwies darauf hin, dass der Sohn des Ministers heute Reisig verkaufen müsse, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der König verstand. Er verzieh dem Schauspieler die kühne Antwort und besorgte dem Sohn eine Anstellung an seinem Hof.'
Diese Anekdote aus dem Jahre 100 vor Christus zeigt, wie sehr damals bereits die Schauspieler in China geachtet wurden.
Doch bleiben wir zunächst bei den Schauspielern. Die leuchtenden Farben der schweren Kostüme aus Brokatseide blenden durch ihre Pracht. Große Krieger tragen den reichgeschmückten, perlenbesetzten Helm, farbige Glaskügelchen sind an Drahtspiralen befestigt. Sie erzittern bei jeder Bewegung.
Am Ende seines Auftritts vollführt der Schauspieler nach einer abschließenden Bewegung oft einen Schritt und bleibt dann unvermittelt mit angehaltenem Atem und lange stehen wie eine Statue, wobei er nur unmerkbar zittert. Dann zittert auch sein kopfschmuck und Zeigt seine unterdrückte Erregung an. Barbarische Kriegsherren haben zwei überlange Fasanenfedern auf ihren Helmen. Der Schauspieler nimmt die Federn oft zwischen die Finger, biegt sie und spielt mit ihnen. Der Kaiser trägt die reiche, mit Filigranschmuck besäte Krone Kuan.
Die Masken kommen dazu. Die Maske wird stets mit einem Pinsel bemalt. Es gibt das offene Gesicht, das alte Gesicht, die Maske Drei-Ziegel-Stücke und das zerspaltene Gesicht. Das zerspaltene Gesicht wird von farbigen Kurven und Spiralen durchzogen. Solch eine Maske haben böse Menschen, Verräter, Banditen. Das genaue Gegenteil ist das ruhige Gesicht der Gelehrten und Literaten, der gerechten Minister und Helden. Diese Gesichter sind weiß und rosig. Die Gesichter der Frauen sind gleichfalls weiß geschminkt. Das Wangenrot wird sehr hoch und kräftig aufgesetzt. Ein purpurrotes Gesicht haben treue, offene und standhafte Menschen, Helden und Heerführer, ein braun-violettes Gesicht haben jene, deren Kraft und Mut in Frage steht, etwa gebildete Würdenträger. Eine schwarze Maske verrät einen ungestümen Charakter. Ein grünes Gesicht besitzen Dämonen und Teufel. In goldener Farbe erglänzen Gesichter überirdischer Wesen. Ein weißes Gesicht drückt größte Verworfenheit aus.
Die berühmte Rolle des „Affenkönigs“ zeigt in ihrer Maske golduntermalte Augen und eine weiße Kurve, die sich über den Augenbrauen wölbt, dann über Schläfen und Backenknochen hinabgleitet, sich um den Mund verengt und in einer Spitze über dem Kinn zusammenläuft. Sehr häufig gehören zu den Masken lange Bärte, die an Drahtbügeln befestigt sind und keineswegs realistisch wirken. Ein bis zum Gürtel reichender Vollbart verrät Wohlstand und Kaft. Ein dünner Bart, der in drei Strähnen vom Kinn herabhängt, wird ausschließlich von Männern mit Bildung getragen. Ein dichter, kurzer Bart verrät Grobheit und Genusssucht. Die Bewegungen der Schauspieler sind durch jahrhundertelange Traditionen festgelegt. Zum Beispiel gibt es etwa zwanzig verschiedenen Arten von Gelächter, die der junge Schauspieler zu lernen hat. Typisch sind die ständigen Bewegungen, mit denen man die weißen und weiten Seidenmanschetten der Kostüme zurückschüttelt oder zurückschiebt.
Wenn der Schauspieler Liu im Stück „Der Platz der neun Drachen“ auf die Bühne kommt, steht er still, bewegt seine rechte und dann seine linke Hand, die Handfläche nach innen, vom Hals abwärts in einem Halbkreis. Wenn die Hand am leichtgebeugten Knie angekommen ist, streift er mit einer raschen Handbewegung die seidenen Manschetten zurück. Dies ist das Signal für das Orchester. Die Manschette lässt er danach langsam fallen, so dass sie bis weit über der Hand herabhängt.
Ist der Schauspieler in der Mitte der Bühne angekommen, blickt er leicht nach rechts, hebt seine linke Hand bis zum Kinn und hält mit seiner rechten Hand den unteren Zipfel der linken Manschette. In dieser Position, Anfangsmanschette genannt, singt er den Prolog. Dadurch wird klar gemacht, dass er noch ein bestimmter Schauspieler und noch nicht in der Rolle ist. Wenn er schließlich den Namen der Rolle nennt, die er spielen wird, lässt er die Arme leicht herabfallen und zeigt und so, dass er in der Rolle ist und beginnt.
Der Weinende zeigt das Weinen so: er hält die obere Ecke der linken Manschette mit der rechten Hand und hebt sie zu seinen Augen und verbirgt sein Gesicht darin, als ob er weine.
Andere Handbewegungen zeigen einen wahren Katalog von Symbolen. Alle Bewegungen, die nach vorwärts oder zurück zeigen, den Kopf in Gedanken auf die Hand stützen, grüßen, etwas ergreifen, alle diese Bewegungen sind genau festgelegt wie die Schritte einer Ballerina.
Hinzu kommt, dass Requisiten, also kleine Gebrauchsgegenstände, fast unbekannt sind. Man trinkt Tee, indem man das Teetrinken spielt. Man verlässt die Bühne durch eine Tür, indem man auf offener Szene die Bewegung des Türöffnens und -schließens vollführt. Ein Schauspieler nimmt auch niemals einen Pinsel, um damit zu schreiben. Er hat in seiner rechten hand ein imaginäres Schreibgerät, und gelegentlich nimmt er mit Daumen und Mittelfinger der Linken ein verlorenes Haar aus dem Pinsel und wirft es weg. Auch das Besteigen eines Pferdes wird nur durch Bewegungen dargestellt. Das Pferd ist ein etwa meterlanger Stock, der mit braunen Fransen behängt ist. Kippt ein Schauspieler eine Kerze um oder bläst er sie aus, so ist Nacht. Wenn es schneit, streift sich eine Schauspielerin den Schnee vom Ärmel und haucht in die Hände. Dann weiß der chinesische Zuschauer, dass es Winter ist. Wenn eine Schauspielerin in einer Staatskarosse hinausgefahren wird, so erscheint ein Bühnendiener mit zwei kurzen Fahnen, die etwa einen Meter im Quadrat haben, und auf deren Fläche ein rollendes Rad gemalt ist. Diese beiden Fahnen nimmt die Schauspielerin und hält sie an ihre beiden Hüften, neigt den Kopf, damit sie nicht etwa an das dach der Kitsche stoße, und zwischen den Fahnen hinaustrippelnd erweckt sie den Eindruck, als ob sie wirklich in einer Kutsche davonführe.
Wenn eine Stadt erobert werden soll, so stellen zwei Diener eine Papp-Atrappe der Stadt auf und halten sie sichtbar fest. Der General schießt mit Pfeil und Bogen nach der Standarte, die fällt. Der Angriff beginnt. Er wird mit unwahrscheinlichen Saltos von einigen Soldaten durchgeführt, die sich über die Mauer schnellen und die Burg erobern. Wilde Becken-Tschinellen- und Gongmusik ertönt dazu. Die Atrappe fällt um und wird sichtbar hinausgetragen.
Berühmt ist die Bootsszene, in der ein Fischer ein Liebespaar über einen See rudert. In dieser Szene ist nichts zu sehen als das Liebespaar und der alte Fischer, der nur mit einem Ruder in der Hand erscheint. Er hält das Ruder waagrecht und das Liebespaar besteigt das Boot, das nicht da ist. Aber die Bewegungen beim Besteigen des Bootes , wobei alle drei Schauspieler gleichmäßig schwanken, - sie haben bei jedem Ruderschlag winzige parallele Bewegungen, - das alles ist so täuschend nachgeahmt, dass der Zuschauer tatsächlich den Eindruck hat, diese drei Menschen führen im Boot über den Westsee. Der alte Fischer rudert gelassen, und die beiden Liebenden betrachten singend die Landschaft. In Wirklichkeit schieben sie sich mit gleichen Schritten alle drei hinaus, wobei der Fischer Ruderbewegungen vollführt. Das alles ist pantomimische Kunst von großer Sensibilität. Gerade diese Szene zeigt, wie sehr der chinesische Schauspieler auf alle Dekorationen, Möbel und Requisiten verzichtet und nur die Fantasie des Zuschauers anspricht.
Zu den Schauspielern gehört die Musik. Vor der Bühne, oder seitlich, sitzt das Orchester, das aus 10 bis 20 Musikern besteht. Sie haben die verschiedensten Instrumente: Die Laute, eine Mundorgel, die chinesische Geige, die große und die kleine Trommel, verschiedene Arten von Hörnern, die Mondgitarre und Flöten, dazu noch Glockenspiele. Nun, diese Musik ist für europäische Acht-Ton-Ohren nicht schön. Ihr jaulender Charakter wird öfter mit Katzenmusik verglichen. In China gibt es das Fünfton-System, das sich in seiner Klangfarbe beträchtlich von unserem Achtton-System unterscheidet. In neurer Zeit findet man auch öfters achttonige Musik. Interessant ist und durchaus abweichend von unserem musikalischen Vorstellungsbild, dass die Musiker selten nach Noten spielen. Jeder Schauspieler hat seinen eigenen Musiker, und dieser Musiker führt, wenn Schauspieler eine Arie hat, das Orchester, während die andern Musiker nur begleiten. Ich habe mich nach einigen Wochen an diese Musik gewöhnt und fand sie dann gelegentlich wunderschön. Ich habe mich erkundigt, und wenig über eine Tradition der absoluten Musik erfahren können. Es schien so zu sein, dass die Geschichte der chinesischen Musik weitgehend mit der Geschichte des chinesischen Theaters verbunden ist.
Gut. Wir haben jetzt die Vorstellung zusammen: Die Bühne, Kostüme, die Masken, Bewegungen, die Schauspieler und die Musik. Wenn nun an hellem Tag, bei hellerleuchteter Bühne, unter den schrillen und leidenschaftlichen Klängen der Musik die Schauspieler in ihren prachtvollen Kostümen mit ihren wilden Masken und der eigenarteigen Bühnensprache des chinesischen Theaters agieren, ist der Eindruck überwältigend und sehr fremdartig. Alles zusammen ergibt das Bild eines überaus leidenschaftlichen, kraftvollen und bizarren Theaters, dem die Zuschauer hingerissen lauschen.
7: Der Besuch des Theaters in China ist außerordentlich billig. Man zahlt für die Eintrittskarte etwa 20-50 Pfennig, und man geht gerne mit der Familie ins Theater. Der Zuschauerraum hat dadurch nicht die Ruhe wie bei uns, und gepolsterte Sessel gibt es nicht. Es ist durchaus möglich, dass Zuschauer während der Vorstellung essen oder sich leisen unterhalten oder dass Kinder durch die Gänge laufen. Die Männer behalten die Mütze auf dem Kopf und kommen und gehen, wie es ihnen passt. Die Beziehung des chinesischen Volkes zu seinem Theater ist eine völlig natürliche. Man macht keinerlei Umstände. Der Chinese geht ins Theater wie zu einem Freund. Wir Europäer gehen ins Theater wie zu einem Chef, wir ziehen uns an wie zu einer Feierlichkeit. Wir bezahlen viel Geld und wir erwarten ein Erlebnis. Der Chinese betrachtet das Theater als eine alltägliche Notwendigkeit. Und nicht als eine feierlich und teure Zugabe des gewohnten Lebens. Der Beifall in China ist darum im Allgemeinen nicht so stark wie in Europa.
Interessant ist die Ausbildung der Schauspieler. Sie geschieht so, dass sich jeder Schauspieler einen Schüler heranzieht, der später seinen Lehrer ersetzt. Der Schauspieler wohnt im Theater. Im habe besonders eingehend die Theaterverhältnisse in Tschengtu studiert, einer Zweimillionenstadt, die im äußersten Westen liegt. Hier wird der sogenannte Sezuan-Stil gespielt. Sezuan ist eine der reichsten und schönsten Provinzen Innerchinas mit 60 Millionen Einwohnern. Die Aufführung im Sezuan-Stil gefiel mir derart, dass ich fragen ließ, ob ich die Schauspieler kennen lernen könnt, und am nächsten Nachmittag hatten wir gemeinsam einen Tee. Es war sehr interessant zu erfahren, wie die Schauspieler leben und was sie von ihren Arbeiten denken. Die Schauspieler leben im Theater und bekommen ein relativ hohes Gehalt. Sie können sich nach 25jähriger Arbeitszeit pensionieren lassen. Einen Starkult gibt es, bis auf wenige Ausnahmen, nicht. Die Schauspieler arbeiten an einem Stück etwa ein Vierteljahr.
Ich habe eines Tages eine Probe besucht. Sie hatten ein kleines Probenhaus mit einer Probebühne, vor der ein offenes Kohlenfeuer glühte. Die Probe ging sehr leise vor sich. Zwei Mädchen, die eine Szene probierten, trugen ein Probenkostüm. Ich habe das auch bei einer Probe im Nationaltheater Peking beobachtet, wo die Schauspieler ein aus hellem Rupfer bestehendes Probenkostüm trugen. Die Korrekturen, bei denen der Regisseur auf die Bühne ging, waren in beiden fällen knapp und leise. Man rauchte während der Probe und auf dem Tisch stand eine Schale mit Bananen, Weintrauben u.s.w. Ich fragte, ob diese Schale bei jeder Probe dort stünde, und man antwortete mir: 'Das Wohlbefinden der Schauspieler ist der halbe künstlerische Erfolg einer Probe, Erfrischungen stehen jeden tag bereit.'
Die Aufführung am Abend vorher hatte mir besonders gut gefallen, weil ich hier jenen Sezuan-Opernstil kennengelernt hatte. Es war eine wundervolle Aufführung. Während der Szene wurden gelegentlich die Gedanken der Hauptdarsteller durch Gesang hinter der Bühne vorgetragen, während die Schauspieler nur pantomimisch agieren. Das ist das Hauptzeichen des Sezuan-Stils. Ich sah später drei Sängerinnen. Es waren Frauen in blauen Watteanzügen, die in der Kulissengasse saßen und Tee trinkend die Vorgänge auf der Bühne verfolgten, um dann ab und zu singend einzufallen. Die Szene war folgende:
Eine Mutter beschimpfte ihre Tochter, sie machte ihr klar, dass die Familie des Geliebten diesen in eine andere Stadt geschickt habe, um dort zu heiraten. Die Mutter verbot dem Mädchen jeden Gedanken an einen fernen Geliebten. Sie verließ das Mädchen und schloß die Tür zweimal energisch ab, man sah es deutlich, obwohl die Schauspielerin das Abschließen der Türe nur durch Bewegungen darstellte. Die Tochter war allein im Zimmer. Die Bühne war hell erleuchtet, und es standen nur zwei Stühle auf der Bühne, die mit rotem Damast bezogen waren. Die Tochter weinte. Sie irrte auf der Bühne umher und beklagte ihr Schicksal. Die Sängerinnen hinter der Bühne fielen ein und sangen etwa:
'Wie furchtbar ist es für ein junges Mädchen,
verstoßen und verlassen zu werden...
wir verstehen ihren Schmerz...'
Dies wurde im Diskant als Kantilene gesungen. Plötzlich wurden die Stimmen dunkel und geheimnisvoll. Sie sangen etwa:
'Jetzt regen sich dunkle Gedanken...
in dem jungen Mädchen. Woran denkt sie?
Mann kann die Gedanken noch nicht deutlich erkennen,
aber wir ahnen, dass sie schrecklich sind.
Die schwarzen Gedanken verstärken sich
Jetzt erkennt man sie...
Das Mädchen will seinem Leben eine Ende machen.
Gibt es denn keinen anderen Ausweg?
Nein, es gibt keinen Ausweg.
Das Mädchen hat alles überlegt.
Wir bangen in der Tat sehr um ihr Leben...'
Dieser hohe und schrille, aber auf eine reizvolle Weise bizarre Gesang, begleitete die Bewegungen des Mädchens, das in der Zeit eine Pantomime spielte und die beiden Stühle nach vorne holte, um sie mit dem Rücken gegeneinanderzustellen. Die Schauspielerin sprach einen Monolog:
'ich werde dieses Haus verlassen und fliehen.
Ich steige aus dem Fenster.'
Sie erkletterte mit langsamen und sehr noblen Bewegungen den Stuhl und indem sie über die Lehnen von dem einen auf den andern Stuhl trat, hatte man das Gefühl, dass sie das Fenster geöffnet hatte und das Haus verließ. Sie sprang vom Stuhl und war in einem Garten, sie teilte die Sträucher mit ihren Händen, sie spielte die Dunkelheit und sie verließ den garten. Dann begann der kleine Frauenchor hinter der Bühne wieder seinen Gesang, der etwa zum Inhalt hatte:
'Sie wird doch nicht zum See hinunterlaufen?
Es gibt so viele Wege für ein junges Mädchen.
Warum geht sie zum See?'
Das junge Mädchen war in der Zwischenzeit auf einem Gang im Kreis um die Bühne gewandert. Allein dieser Gang war von einer wundervollen schauspielerischen Meisterschaft, sie schluchzte dabei, sie taumelte, sie erhob sich, sie bog Hindernissen aus und sie erreichte schließlich den See. Sie ging in den See hinein und sie sang. Sie ging sehr langsam und man sah sie deutlich durch das Schilf gehen. Dann stand sie schon ziemlich tief im Wasser und rief ihren Schmerz hinaus, der von den drei Frauen hinter der Szenen singend aufgenommen wurde. Die ganze Szenen hatte etwas ungemein Packendes. Schließlich mit einem letzten klagenden Seufzer versank das Mädchen im Wasser.
Die Wirkung war so stark, dass ich heute noch nicht weiß, wie die Schauspielerin von der Bühne gekommen ist. Man muß sich vorstellen, dass die Bühne bis auf die zwei Stühle absolut leer war und sehr hell. Wie hätten wir mit Wolkenapparat und Schilfdekorationen, mit Nachtstimmungen und Windmaschinen diese Szene gespielt. Es war für Europäer unvorstellbar, dass diese Szene ohne irgendein Hilfsmittel allein von der Kunst einer Schauspielerin belebt worden war, so dass tausend Menschen im Zuschauerraum, darunter auch ich, fasziniert waren.
Das wesentliche Kennzeichen der Sezuan-Oper, der Gesang der Frauen, die hinter der Szenen die Gedanken der Schauspieler aussprechen, indes diese vorne pantomimisch agieren, hat einen ungewöhnlichen Reiz.
Übrigens lässt sich kein Zuschauer stören, wenn auf der Bühne ein Bühnenarbeiter erscheint und einen Stuhl bringt oder eine Tasse Tee für einen Schauspieler.
8: das chinesische Theater unterscheidet sich fundamental von dem europäischen Theater. Es ist seit tausend Jahren wenig verändert. Es hat eine Tradition kostbarer Formen entwickelt. Heute versucht man, in die alten einheitlichen Formen neue Inhalte zu bringen: Die Inhalte der Gegenwart. Dieses Verfahren stößt auf Schwierigkeiten. Chinesische Bühnenleiter und Schriftsteller haben mir offen erklärt, dass das Publikum weggeblieben ist, wenn in ein altes Stück neue Fabeln eingebaut wurden. Heute geht man langsam vor. Es handelt sich also um Inhaltsexperimente bei Bewahrung der überlieferten form.
Wir können uns die Situation nicht leicht vorstellen.
Das europäische Theater hat seine Formen in den Jahrhunderten außerordentlich verändert. Es gibt heute so völlig verschiedene Theatertypen, wie das ‚Teatro piccolo’ in Milano, Vilars ‚Theatre populaire’ in Paris, das ‚Old Vic’ oder das ‚Royal Court’ in London und Felsensteins Musik-Theater in Berlin. Ein einheitlicher Stil ist nicht zu finden, wie er sich in den vielen Jahrhunderten chinesischer Geschichte im Land der Mitte ausgeprägt hat. Man kann bei uns eher von einer Wirrnis, von einer Anarchie der Formen sprechen. Und die Form ist es, an der bei uns immer wieder experimentiert wird. Auf dem europäischen Theater herrscht das Formal-Experiment vor. Das gilt für die Regie, für die Schauspieler und für die Stücke.
Die Bühnentechnik spielt auf dem europäischen Theater eine bedeutende Rolle. In Westdeutschland wurden nach dem Krieg zahlreiche neue Bühnenhäuser gebaut, von denen jedes viele Millionen gekostet hat. Riesige Summen werden jährlich für die Finanzierung eines gewaltigen Theaterbetriebs ausgegeben, der dann in der Lage ist, wahre Breitseiten von Licht-Effekten, Dekorationskunst und optischen Zaubereien abzufeuern.
Das chinesische Theater ist wahrscheinlich das billigste Theater der Welt. Die chinesische Bühne ist simpel und billig. Teure Lichtanlagen und Abstellräume, Drehbühne, das alles ist überflüssig. Unser Auge muß sich erst an die absolute Dekorationslosigkeit gewöhnen.
Im chinesischen Theater gibt es eine Szene, in er ein junges Mädchen einen Freier narrt, der ihr nachts im dunklen Garten nachstellt. Sie sagt zu ihm:
'Psst...fall nicht über den Muschelzaun...'
Er umgeht ihn liebesgierig. Dann sagt sie zu ihm:
'O weh, der Springbrunnen! Fall nicht ins Wasser!'
Er will links um das Wasser gehen, um zu ihr zu gelangen.
'Nein,' sagt sie 'da ist die Mauer...Versuchs anders herum!'
Er will nach rechts gehen.
'O weh! Da ist ja der Bach!' ruft sie.
Sie narrt ihn also. Sie wird heimlich von Lachen geschüttelt. Der Freier zuckt schließlich die Schultern und zieht sich enttäuscht zurück. Die Zuschauer lachen immer wieder.
Ich sah auf der Bühne den nachtdunklen Garten, den Muschelzaun, den Bach, den Springbrunnen, mit mir sahen alle Zuschauer das gleiche. Und was war in Wirklichkeit zu sehen? Das Mädchen, der Freier und sonst gar nichts, und die Bühne war hell. Das ist das chinesische Theater in der Essenz. Der europäische Zuschauer hätte Dunkelheit verlangt, Gartendekoration, den Springbrunnen. Ein Bühnenmaler hätte das alles fantasievoll entworfen, und die vielen hundert Zuschauer hätten die gleiche Dekoration kollektiv akzeptiert.
Sie hätten sich alle von der Fantasie des Bühnenbildners führen lassen, und keiner hätte mehr die Möglichkeit gehabt, sich eine andere Dekoration vorzustellen. Das Vorhandene zwingt in seinen Bann. Die Fantasie des einzelnen Zuschauers wäre nicht gerufen, nicht aktiviert worden. In China leistet die Fantasie, die Vorstellungskraft des Zuschauers ständig Eigenarbeit. Jeder stellt sich die Szenen individuell verschieden vor, jeder nach seinem eigenen Geschmack. Das chinesische Theater trägt entschieden zur Bewusstseinsbildung bei. Die Fantasie wird ständig gerufen, und die Leuchtkraft der Vorstellungen ist wesentlich für die Beurteilung von fremden Umständen. Wird einem Volk nicht ständig Fantasie abverlangt, so haben irreale Vorstellungen es leicht, ein falsches Weltbild zu organisieren. Die Literatur kennzeichnet den Weg, den das Bewusstsein des Menschen durch Jahrhunderte gegangen ist. Ja, die Bewusstwerdung des Menschen geschieht durch Literaturwerdung, Die menschliche Verfassung in den jeweiligen Epochen der Geschichte wird recht genau durch den jeweiligen Status der Vorstellungen der Fantasie, des inneren Bildes gekennzeichnet. Insofern ist die vergleichende Theatergeschichte unter anderem eine wertvolle Methode der Völkerpsychologie.
9: Auf dem chinesischen Theater spielt der Ehebruch keine Rolle, da der Chinese, der mit seiner Frau nicht zufrieden war, leicht eine andere kaufen konnte. Er konnte bis zu vier Frauen haben, und Frauen waren rechtlos. Bei der allgemeinen Prüderie in China wird man niemals ausführliche oder eindeutige Liebeszenen finden, wie sie in Europa im Theater und besonders im film ständig zu finden sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ‚Romeo und Julia’ von Shakespeare bei der Aufführung in Peking, im Gegensatz zu ‚Nora’, kein großer Erfolg war, denn das Ibsen-Stück beschäftigte sich mit einem brennenden Problem, der Befreiung der Frau.
Brutale Szenen kommen eigentlich nie vor. Kommt es zu einem Kampf der Krieger, so wird er nie mit Hauen und Stechen realistisch durchgeführt, sondern sofort stilisiert. Sofort gewinnt die akrobatische Form die Überhand, und aus dem Kampf wird ein Tanz mit Schwert und Lanzen.
In Shanghai, jener 10 Millionenstadt am Whang-Poo gibt es ein riesiges Haus: ‚Die große Welt’. Dieses Haus war früher der schillernde Magnet des internationalen Vergnügungslebens. Es wurde von dem licht der Bogenlampen angeleuchtet, umzwitschert und umplappert von unzähligen Straßenmädchen und Sing-Song-Girls, gelackt und bunt geschminkt.
Heute hat sich der Charakter dieses Häuserblocks geändert.
Und hier hat man etwas besonders Interessantes geschaffen: ein Haus, in dem nicht weniger als acht Theater gleichzeitig spielen. Außerdem gibt es hier ein Varieté, ein Kino, einen Vergnügungspark und eine Buchhandlung. Die Theater spielen in zwei Seitenflügeln des Hauses, und in je vier Stockwerken übereinander. Sie spielen alle Stile: Peking-Oper,
Sin-Shao-Oper, Lokal-Oper, Modernes Drama und Posse.
Es ist erregend vom Hof aus am hellen Nachmittag auf vier Bühnen übereinander im Scheinwerferlicht die Schauspieler agieren zu sehen. Die Zuscherräume sind ständig überfüllt. Jeder fasst 500 – 1000 Zuschauer. Überall hört man Tschinellen, Gesang, Geigen und Gelächter. Für 40 Feng Eintritt kann man den ganzen Tag von Vorstellung zu Vorstellung gehen. Das tun täglich etwa 10 000 Menschen, sonntags bis zu 50 000.
Es gibt in Shanghai, wie in ganz China auch noch die Einrichtung der Story-Teller, der Geschichtenerzähler, die in riesigen, hässlichen Sälen meist alte Legenden und Sagen in einem hohen, singenden Bühnenton vortragen, wobei sie sich mit dem Zupfen einer Geige unterstützen. Manchmal treten sie zu zweien oder dreien mit der Streichgeige auf, und schlagen mit Hölzchen einen rätselhaften und spannenden Takt zu ihrer Erzählung.
Es hat etwas Faszinierendes, tausend schweigende Chinesen in kalten Sälen, bei ungemütlichem Neonlicht zu beobachten, die in Stuhlreihen, Tee trinkend und die Mütze auf dem Kopf den alten Märchen hingebend lauschen. Die Geschichtenerzähler singen kühl, fast unbeteiligt, aber mit viel Raffinesse, schien mir.
Wesentliche Eigenschaften der Chinesen sind sein Witz, sein Individualismus und seine Bereitschaft zur Kritik. Das gibt auch den traurigsten Stücken stets eine Prise Humor. Auch die Kritik am konfuzianischen Moralgebäude war stets schwach. Die Stücke griffen unhaltbare Zustände an, und die innere Opposition fand auch in den Rollen der alten Oper oft ihren Ausdruck.
Solche Stücke wurden berühmt. So ist besonders der ‚Affenkönig’ außerordentlich populär geworden. Der Affenkönig in einer überaus bunten Aufmachung mit affenhaften Bewegungen dargestellt ist ein gutes, übernatürliches Wesen. In den Augen der Gutsbesitzer jedoch ist er ein verdächtiger Unruhestifter. Das Stück stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde seit jener Zeit ständig gespielt.
Andere berühmte Stücke dieser Art sind ‚Der Hirte und das Mädchen’, Herbstfluß’, ‚Die weiße Schlange’, ‚Die Göttin vom Lo-Fluß’.
Der größte erfolg einer modernisierten klassischen Oper ist ‚Das Mädchen mit den weißen haaren’, das von der Peking-Oper auf Gastspielen in Amerika und Europa gezeigt wurde und einen Welterfolg hatte. Es handelt von einem Mädchen, das in einer Höhle lebte und das von den abergläubischen Dorfbewohnern für ein weißhaariges Gespenst gehalten wurde. Aber niemand wusste, war es eine wohltätige Fee oder ein böser Dämon. Als die Soldaten das Dorf besetzten, folgten sie dem Gespenst und drangen in die Höhle ein. Sie fanden das halb verhungerte Mädchen, das vom Gutsbesitzer den Eltern geraubt und zur Konkubine gemacht wurde. Sie floh in die Berge, brachte dort ihr Kind zur Welt und lebte nun von den Opferspeisen, die die Bauern in den Tempeln niedergelegt hatten.
Dieses Stück wurde auch verfilmt. Es ist ebenso wie 'Die weiße Schlange' ein Standartstück des chinesischen Theaters geworden. Ich habe den Autor kennengelernt, der mich durch Peking führte, und der ein junger und bescheidener und berühmter Dichter ist.
Wie steht es mit der modernen Dramatik?
Zunächst ist festzustellen, dass das moderne Drama in China relativ jung ist. Aber es gibt einige bedeutende Dichter, die sich mit dem Drama befassen. Hier ist vor allem Kuo – mo – jo zu nennen, ferner Tsao – jü, der sie Stücke ‚Entartung’, ‚Menschen in Peking’, und ‚Heller Himmel’ geschrieben hat. Am bekanntesten als Dramatiker ist Lao – sheh, von dem die Stücke ‚Kanal Drachenbart’ und der weltberühmte ‚Rickschah-Boy’ sind. Ich sah von ihm ein Stück ‚Sonnenaufgang’, das auf mich eine starke Wirkung ausübte. Es behandelt das Kurtisanenmilieu in Shanghai um 1920.
Der größte Dramatiker des klassischen Theaters ist Kuan – han – shing, ein Arzt aus Peking, der viele Dramen hinterlassen hat, und der als der große Klassiker des modernen Theaters gilt. Er lebte zur Zeit der Jüan-Dynastie um das Jahr 1300. Von ihm werden heute noch viele Stücke gespielt, so ‚Der Schmetterlingstraum’, der ‚Ufer-Pavillon’ und das Stück ‚Der General Chuang kommt zum Fest’. Die Werke von Kuan-hanshing werden augenblicklich in China stark diskutiert.
Das moderne Drama in China ist in der Entwicklung. Bei der literarischen Begabung dieses Volkes , wird es nicht lange dauern, bis das moderne Drama auf dem chinesischen Theater eine ähnliche Rolle spielt wie bei uns.
10: Wer Theaterstücke fremder Völker sieht, lernt die Völker von innen her kennen. Er sieht nicht nur die Dome, die Tempel, die Brücken und die Landschaften, er sieht die Schluchten, die Strömungen, aber auch die Brücken der inneren Landschaft jenes Volkes.
Wir leben in einem bestimmten Vorstellungssystem. Bei einiger Bemühung kann man heute die Völker der Welt in ihrem Eigenwert kennenlernen, nicht mehr verhängt, nicht mehr verzerrt und vernebelt durch Propaganda, auch nicht mehr als bizarre Objekte für Touristenkameras, nicht mehr als Kolonialobjekte, nicht mehr nur als ökonomische Interessengebiete, sondern als große atmende Subjekte.
Das riesige Volk der Chinesen hat ein Theater entwickelt, vor dem wir Europäer bewundernd stehen. Wie man mit geringstem äußeren Aufwand die innere Vorstellungskraft des Menschen entwickeln kann, das ist überaus lehrreich. Und ist es nicht so, dass wahre Kunst mit geringsten Mitteln größte Wirkung erreicht? Ist das nicht sogar ein Kennzeichen der wahren Kunst? Wir leben in einem anderen Kontinent mit einem anderen Theater. Aber wesentliche Begegnungen zweier Völker geschehen auf der Bühne, denn dort ist ein Volk in seiner Essenz sichtbar, und die scharfrandige Projektion der inneren Welt Chinas auf sein Theater zeigt uns, dass diese innere Welt des chinesischen Volkes ungewöhnliche Schönheit birgt, Kraft und Leidenschaft, aber auch Sanftmut, Entsagung uns Sensibilität.
Die äußeren Entfernungen in der Welt schwinden. Man kann heute in Singapore zu Abend essen und in Frankfurt frühstücken. Aber wann werden die inneren Entfernungen endlich überwunden?
Wann lernen wir die Welt so zu sehen, wie sie ist, ohne falsche Vorstellungen , ohne Vorurteil, ohne Angst, ohne Provinzialismus?
Zwei große Pole der Kunst habe ich hier flüchtig zu zeichnen versucht, unser europäisches Theater und das Theater Chinas, zwei wahre Kontinente. Beide werden voneinander lernen, beide spielen eine bestimmte Rolle in der Welt, jenseits von Vorurteil, Nationalismus und Ressentiment und jenseits aller politischen Vorbehalte.
Der Vergleich beider zeigt uns die Größe der Welt und die Größe der menschlichen Bemühungen. Und es ist immer ergreifend zu sehen, wie stark der Mensch wird, wenn er sich um Menschlichkeit bemüht.
Theater, das kann Kirmes oder Kirche sein, Laboratorium, Baumschule oder Operationssaal, aber immer ist es ein Ort der Veränderung des Menschen.
Das ist sein Sinn und seine Größe."
"Als ich mit Wang die Theatergarderobe betrat, sah ich die Schauspieler vor den großen Spiegeln stehen, sich schminkend oder in ihre bunten Prachtgewänder aus Brokatseide steigend. Sie wandten sich alle mir zu und begannen zu lächeln und in die Hände zu klatschen, ein sonderbarer Brauch, der hierzulande das umständliche Händeschütteln ersetzt.
‚Es wird interessant werden heute abend’, meinte Wang.
‚D i e S e e l e kommt später auf die Bühne.’ Ich sah ihn überrascht an. ‚Ja, heute werden Sie die Seele sehen!’ - Wang lächelte.
Wir betraten die überraschend kleine und recht primitive Bühne, auf der in mattem Licht die Schauspieler auftrittbereit standen. Ich sah durch eine Kulissengasse der Vorstellung zu. Es war in Schanghai, und es war die Peking-Oper. Es wurde hinreißend gespielt. Die schweren Prunkgewänder leuchteten purpurn und golden im Scheinwerferlicht auf. Die Schauspieler sprachen in jenem uralten Singsang, der zur Tradition des chinesischen Theaters gehört. Es war eine leidenschaftliche Szene, die auf der fast leeren Bühne gespielt wurde. Zwei Kriegsherren mit wild geschminkten Gesichtern warfen ihre dünnen, langen Barte heftig hin und her, stampften mit den fingerhohen weißen Filzsohlen ihrer seitlich gesetzten Füße kräftig auf den Bühnenboden, daß der Staub im Licht der Scheinwerfer aufwirbelte und bewegten ruckartig ihre erregten Köpfe. Sie sangen einander mit einer Art Falsettstimme heftig an.
Ich ging mit Wang in den überfüllten Zuschauerraum. Es war heller Tag. Durch die hohen Fenster fielen die breiten Streifen des Sonnenlichts. Es mochten etwa tausend. Menschen im Raum sitzen, viele Kinder darunter, die Männer hatten ihre Mützen auf, und die Kinder lachten oder plapperten ungeniert vor sich hin. - Ich erlebte chinesisches Theater…
Plötzlich war das Stück zu Ende. Ich wurde belehrt, daß sehr oft nur die besten Akte verschiedener Stücke in einer Vorstellung gespielt werden, da die Zuschauer die klassischen Stücke fast alle kennen.
Man bemerkt es daran, daß der Zuschauerraum, der im Allgemeinen für unsere Begriffe recht unruhig ist, bei bestimmten Szenen plötzlich still wird. Da blickt alles fasziniert zur Bühne: wie wird die Szene heute gespielt? Da gibt es kein Kinderschreien, keine Unterhaltung, kein Kauen und Lutschen und nicht das widerwärtige Ausspucken. Da ist es still. Und manchmal gibt es danach Beifall.
Die Stücke des klassischen Theaters sind sehr alt, meist tausend bis einige hundert Jahre. Ein Theater, das jeden Tag ein anderes klassisches Stück spielt, brauchte etwa drei Jahre, um das Repertoire der klassischen Dramatik Chinas darzustellen; ein erstaunlicher literarischer Reichtum.
Und dann sprach Wang wieder von der S e e l e.
Was er damit meine? – Nun, das Problem der Seele, ob ich nichts darüber erfahren habe? Man habe seit Monaten darüber diskutiert.
‚Lieber Wang, ich habe siebzehn Theatervorstellungen zwischen Peking, Kanton, Tschungking gesehen, und nie habe ich etwas von dem Problem der Seele gehört. Was habt ihr gegen die Seele?’
Wang lächelte. Er war gescheit, prüde, sympathisch und jung. Wenn er im Mantel mit seiner mächtigen mandschurischen Pelzmütze einherging, wußte ich, dieser Student ist ein begeisterter Vertreter des modernen China. Ich fragte ihn. welche Nationalität er wählen würde, wenn ihm das freistünde.
Er dachte nicht lange darüber nach: ‚Ich möchte wieder Chinese sein.’
Er sprach ausgezeichnet Deutsch, nur konnte er gelegentlich von einem Raubritter sprechen und einen Seidenraupenzüchter damit meinen.
‚Wir haben nichts gegen die Seele, aber wir wissen, in China gibt es noch viele Menschen, die an Geister glauben. Die Geister spielen eine große Rolle wie der Aberglaube überhaupt. Wir wollen diese Menschen nicht verwirren.’
‚Aha, und darum spielt ihr das Stück nicht, in dem die Seele vorkommt.’
‚Doch, natürlich spielen wir es. Sie werden es sehen.’
Die Pause war zu Ende. Der dünne, einfarbige Vorhang hob sich, die Lichter flammten auf und zeigten die leere Bühne. Ein alter Bauer bekommt statt Geld von einem Schuldner einen alten Topf, mit dem es eine Bewandtnis hat. Er hat einem ermordeten Kaufmann gehört, dessen Seele an diesen Topf gebunden ist. Wenn man den Topf dreht, erscheint die Seele. Nun, der alte Bauer drehte den Topf, und die Seele erschien. Es wurde im ganzen Zuschauerraum grabesstill; ich „hörte“ das Schweigen von vorn nach hinten wandern.
Es war eine der einfachsten und eindrucksvollsten Szenen, die ich je auf dem Theater sah.
Der alte Bauer sah die Seele nicht und bewegte sich hin und her, um sie zu erspähen. Die Seele befand sich jedoch ständig mit parallelen Schritten und Bewegungen hinter ihm. Es sah fast aus wie ein Ballett. Dabei sprachen beide leise und mit sonderbar atemlosen Stimmen miteinander.
Wie stellen sich chinesische Theaterleute die Seele vor? Wild? Leidenschaftlich? Prächtig? Alt? – Nein. Die Seele war ein blasser Mann mit hängendem Schnurrbart. Sie trug ein schwarzes, langes Gewand, und von der schwarzen Kappe fielen lange, schmale Tuchstreifen, die bei jeder Drehung sich langsam, glockenartig hoben. Und die Seele drehte sich unaufhörlich um sich selbst, während sie mit dem Bauern ihr sanftes Ballett äußerst präzis tanzte.
‚Jetzt ist sie da...’ flüsterte Wang, ‚das Drehen um sich selbst bedeutet, daß es sich um einen Geist handelt, um eine Erscheinung’, belehrte er mich.
Ich blickte mich vorsichtig um. Im hellen Tageslicht des Zuschauerraums sah ich Hunderte von chinesischen Gesichtern, die fasziniert zur Bühne starrten, Männer mit blauen Kappen, Mandschuren, Tibeter mit Pelzmützen, Soldaten, Frauen und Kinder. Sie hatten alle aufgehört zu flüstern und zu käuen. Es war völlig still im Zuschauerraum. Die vielen vom quer einfallenden Sonnenschein und von den Lichtern der Bühne angeleuchteten Gesichter in ihrer angespannten Aufmerksamkeit, die vielen schmaläugigen Frauen, jung, mit halboffenen Mündern, die älteren Frauen mit Mittelscheiteln, die vorgebeugten Soldaten, die Bauern, die atemlos lauschenden Greisengesichter mit Schlagschatten, wenn sie sich bewegten, die aufgerissenen Kindergesichter, die vor Spannung unvollendeten Bewegungen: das alles zeigte ein Bild der heimlichen Seele Chinas. Hier waren Naivität, Gläubigkeit, Hoffnung deutlich zu erkennen. Hier war ein Blick in jene unbewußten Regionen eines Volkes geglückt, die selten angesprochen werden."
"Ein Mann tritt eilfertig in das Zimmer, ein hoher Beamter in Ostberlin. Wir begrüßen uns. Ein Amtsgehilfe trägt das Buch. Es ist ein mächtiger dicker Band, den er auf den Tisch legt. - Es ist ein sehr helles Zimmer, und draußen scheint die fröhliche Sonne Berlins.
Es wird irgendetwas von Zufall, von Aufbewahrung, von Tresor gesagt. Ich trete an den Tisch und schlage das Buch auf.
Da sind sie alle. Da sind die Fotos.
Es sind die letzten Abbildungen ihrer Gesichter, und dies ist ein sogenanntes "Verbrecheralbum" der Gestapo. Es sind sehr viele Seiten, die ich umblättere. Ich staune darüber, wie viele Menschen damals in unserem Prozeß verurteilt worden sind.
Das Buch hört nicht auf, und die meisten dieser vielen Gesichter sind die von Hingerichteten. Ich kenne nur wenige von ihnen, und nur wenige haben überlebt. Aber ich finde die Gesichter unserer Freunde:
Das trotzige Gesicht des Bildhauers Kurt Schumacher zeigt noch Spuren der Mißhandlungen. Da ist das reine Antlitz von Mildred Harnack, jener sensiblen Amerikanerin, die mit den Worten starb: ‚Und ich habe Deutschland so geliebt...’
Da ist Walter Husemann, der mir durch das Zellenfenster einst zurief, ich hörte seine Stimme genau im Wind: ‚Hör zu, wenn du rauskommst, sag allen, ich war fröhlich gestorben...’
Da ist das lächelnde Gesicht der zweiundzwanzigjährigen Eva-Maria Buch, von der der Anstaltspfarrer berichtete: ‚Sie starb wie eine Heilige...’ Da ist die Studentin Ursula Goetze, die sich selbst belastete, um andere zu retten.
Da ist der lungenkranke Student Horst Heilmann, der als einzigen Wunsch äußerte, nach Harro Schulze-Boysen erschossen zu werden. Und da ist das schmale Gesicht von Dr. Philipp Schaeffer. Ich sehe ihn noch neben mir vor dem Reichskriegsgericht sitzen. Als einer der Generale ihm vorwarf, daß er die Tätigkeit der Gruppe nicht angezeigt habe, erhob er sich mühsam mit Hilfe seiner Krücken und erklärte: ‚Meine Herren, ich bin gefragt worden, warum ich diese Sache nicht angezeigt habe. Dazu kann ich nur erwidern: Ich bin kein Handlanger der Polizei.’ Und er setzte sich. Er trug Krücken, weil er bei der Hilfe für ein jüdisches Ehepaar, das Selbstmord begehen wollte, vom dritten Stock auf die Straße gestürzt war. Er wurde hingerichtet wie alle, die hier genannt sind.
Als ich das Amt verließ, begleiteten die Gesichter mich. Und sie werden nie von meiner Seite weichen.
Da ist Harro, ein schönes, ein nobles Gesicht. Der ganze Mann, wie er dastand, war ein Bild dessen, was sich Militärs damals von einem jungen Offizier erträumten, gut gewachsen, blauäugig, kühn, Oberleutnant der Luftwaffe, Sohn eines Kapitäns zur See, aus der Familie jenes Admiral Tirpitz. Aber darüber hinaus das Eigene, Unverwechselbare: zunächst die Vergnügtheit, die Heiterkeit eines sicheren Menschen, dann die helle Lust an der Debatte, das Florettieren mit Argumenten, der Fechterglanz in den Augen. Dahinter wieder der suggestive Schwung eines jungen Politikers, der sah, der mitriß. Und tief innen die Leidenschaft, die bitter erarbeitete Einsicht. Welchen Weg hatte der mit dreiunddreißig Jahren Hingerichtete hinter sich, der mir zum ersten Male in einer öffentlichen Berliner Studentendebatte, die meinem ersten Roman "Barbaren" galt, damals noch als Vertreter des "Jungdeutschen Ordens" entgegengetreten war.
Kurz nach dem Reichstagsbrand verhaftet, lernte er als einer der ersten die blutigen SA-Methoden am eigenen Leibe kennen. Wieder freigelassen, begann er seine illegale Arbeit. Nach einigen Jahren wurde er Fliegeroffizier. Es sammelte sich ein Kreis um ihn, der jede Woche einmal in seiner Atelierwohnung diskutierte.
Es haben wenige Menschen so an sich gearbeitet wie Harro, der nebenbei als einer der aussichtsreichsten Offiziere des Reichsluftfahrtministeriums galt. Wie viele tausend Treffs, wie viele geflüsterte Unterhaltungen hat er geführt, wie viele Bedenken beseitigt, ein Mann ohne Angst, der die gefährlichsten Aufträge selbst übernahm, der Bewunderung hinterließ, wenn er ging. Ein Mann wie eine Flamme.
Als nach den fünf langen Jahren der illegalen Arbeit, die sich immer mehr verstärkte, je größer die Triumphe Hitlers wurden, im Winter 1942 der Schulze-Boysen - Harnack-Prozeß vor dem Reichskriegsgericht in Berlin begann, waren vierhundert Menschen verhaftet und eine der größten Widerstandsorganisationen während des Nazireichs aufgeflogen. Hitler, aufs äußerste alarmiert, ließ sich jeden Abend Bericht erstatten, stieß Urteile um und fabrizierte das Gesetz der "Feindbegünstigung". Von fünfundsiebzig Angeklagten wurden neunundfünfzig hingerichtet. Einige töteten sich selbst. Harro und Harnack erweckten die Bewunderung der richtenden Generale. Sie wurden mit neun Kameraden am Tage vor Weihnachten in Plötzensee erhängt. Dann prasselten die Todesurteile, die Gestapo arbeitete fieberhaft, der Keller in der Prinz-Albrecht-Straße 8 war so überfüllt, daß die Gestapo einen Teil des Strafgefängnisses Spandau beschlagnahmte. Einen Haftbefehl erhielten die Angeklagten nach rund drei Monaten Haft, die Anklageschrift wurde durch einen Gestapobeamten jedem etwa drei Minuten lang in die Zelle gehalten. Als wir die Tür zum Verhandlungsraum durchschritten, stieß einer der überlasteten Offizialverteidiger zu uns, die häufig nicht einmal wußten, wer der zu Verteidigende war. Der ganze Prozeß war in viele Einzelprozesse aufgeteilt, ein Trick, der es möglich machte, die Aussagen der Angeklagten jeweils als Zeugenaussagen zu werten, und der außerdem den Umfang des Gesamtprozesses verschleierte.
Der ganze Komplex war als "Geheime Kommandosache" deklariert worden. Wer also darüber sprach, verübte "Feindbegünstigung" und riskierte sein Leben.
In seinem letzten Brief schrieb Harro Schulze-Boysen: ‚Ich habe den Tod längst überwunden. In Europa ist es nun einmal so üblich, daß geistig gesät wird mit Blut.’
Da ist Libertas, seine Frau, sie war schlank und jung. Sie war die Enkelin jenes Fürsten Eulenburg, der die "Rosenlieder" für Wilhelm II. gedichtet hatte und einstmals Hofmarschall des letzten Kaisers war.
Sie ritt ausgezeichnet, und ich vergesse nicht, wie sie eines Tages heftig atmend und voller Lebensfreude strahlend auf mich zukam, das Pferd am Zügel. Das Gut Liebenberg war riesig, in der düsteren Halle des Schlosses standen leere Ritterrüstungen umher, und wir lachten miteinander. Drei Jahre später wurde sie in Plötzensee aufgehängt. Sie war mit einem Mann verheiratet, den sie liebte, und sie arbeitete mit ihm und schrieb illegale Texte, gefährliche Aufrufe und Botschaften.
Sie wollte leben.
Wir saßen im Schloß beim Tee, wir segelten zusammen auf dem Wannsee, und wir hatten viele Gespräche miteinander.
Sie wollte leben.
Sie wollte nicht mehr illegal arbeiten, aber sie konnte Harro nicht im Stich lassen. Sie hat fünf Jahre lang treulich für ihn gearbeitet, und auf jede einzelne dieser Arbeiten stand der Tod.
Nach fünf Jahren konnte sie diese Angst nicht mehr aushalten. Sie wollte leben, einfach leben. Sie wollte Liebe und Frieden. Und dann kam der Krieg. Sie arbeitete getreulich weiter, Angst im Herzen, Hoffnung und Verzweiflung im Herzen. Und dann kamen die Verhaftungen, und die Gestapo holte sie aus dem Schnellzug.
In ihrer Zelle befand sich eine fremde Frau, eine Spitzelin der Gestapo. Libertas war erregt. Sie suchte Verständnis. Sie erzählte. Sie hatte viel zu erzählen.
In ihrem letzten, heimlichen Brief, den sie am Tage ihrer Hinrichtung, kurz vor Weihnachten, am 22.Dezember 1942 schrieb, berichtet sie: ‚Ich hatte noch den bitteren Kelch zu trinken, daß ein Mensch, dem ich mein volles Vertrauen geschenkt hatte, Gertrud B., mich (und Dich) verraten hat, aber – ‚'und iß die Früchte deiner Taten, denn wer verrät, wird selbst verraten...'’ Auch ich habe aus Egoismus Freunde verraten, ich wollte frei werden und zu Dir kommen -. Aber glaube mir, ich hätte an dieser Schuld unsagbar schwer getragen. Jetzt haben mir alle verziehen, und in einer Gemeinsamkeit, die nur angesichts des Todes möglich ist, gehen wir dem Ende entgegen...’ Der letzte Satz des letzten Briefes von Libs, so nannten wir sie, lautete: ‚Ich fand meine Vollendung, meinen eigenen Tod, mir hätte keine größere Gnade zuteil werden können als diese. Und: Macht es mir 'drüben' nicht schwer mit Tränen, freut Euch mit mir. Ich habe es gut.
Dein Kind’
Diese junge und schöne Frau, deren kurzes Leben ein Liebesopfer gewesen ist die das Singen und Lachen und Träumen liebte und ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb an das ihres Mannes Harro Schulze-Boysen gebunden hatte, starb mit ihm am kurzen Seil in Plötzensee."