Seiten, die auf Hänsel und Gretel verweisen

Dauer

70 Minuten

Alter

Ab 6 Jahren

Premiere

23. Oktober 2002

Wahrscheinlich sind sie das berühmteste Geschwisterpaar unseres Kulturraums: Hänsel und Gretel: Die beiden Kinder wachsen mit ihrer Familie in so schlimmer Armut auf, dass ihre Stiefmutter einen grausamen Plan entwickelt. Sie will die beiden im Wald aussetzen, um wenigstens den Eltern das Verhungern zu ersparen. Hänsel belauscht das entscheidende Gespräch der Eltern und kann daher den Weg zurück ins Elternhaus markieren.

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Märchen-Geschichte

Als Jakob und Wilhelm Grimm die von ihnen gesammelten und 1812 erstmals veröffentlichten Volkserzählungen "Kinder- und Hausmärchen" nannten, hatten sie dabei nicht nur einen bestimmten Adressatenkreis vor Augen, sondern verbanden damit auch erzieherische Vorstellungen. In ihrer Vorrede bezogen sie sich auf die Stilisierungen realer Lebenserfahrungen in Märchen und meinten dazu: "In diesen Eigenschaften aber ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt. Es war weder ihr Zweck, noch sind sie darum erfunden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüthe ohne Zuthun der Menschen.“

In den folgenden Ausgaben bis 1857 wurden die Märchen durch die beiden Brüder gezielt und bewusst unter pädagogischen Gesichtspunkten überarbeitet. Eine der bekanntesten Manipulationen des überlieferten Materials, die auch bei "Hänsel und Gretel" vorgenommen wurde, ist die Umwandlung der negativen Mutterfigur vieler Märchen in eine Stiefmutter. 1819 betonten die Brüder Grimm ausdrücklich, dass sie die Märchensammlung nicht nur als einen Beitrag zur Geschichte der Mythologie und Poesie der Deutschen verstanden wissen wollten, sondern dass sie als Erziehungsbuch dienen sollte. An dieser Stelle soll betont werden, dass uns diese Ambition der Brüder Grimm bei der eigenen Beschäftigung mit "Hänsel und Gretel" nicht interessiert hat.

Viel inspirierender fanden wir die Aussagen von Charles Dickens. Er beschrieb die Wirkung von Märchen folgendermaßen: "Rotkäppchen war meine erste Liebe. Ich wusste: Hätte ich Rotkäppchen heiraten können, so wäre mir vollkommene Glückseligkeit zuteil geworden." Er ließ sich von Märchen bezaubern, wie Millionen Leser und Zuhörer auf der ganzen Welt zu allen Zeiten. Auch als er schon weltberühmt war, betonte Dickens, wie tief die wunderbaren Gestalten und Ereignisse der Märchen seine Persönlichkeit und seine Kreativität prägten. Von einer 'Anwendung auf die Gegenwart' war dabei nicht die Rede.

Märchen-Wirkung

Der bekannte Kinderpsychologe Bruno Bettelheim wies in seinem maßgeblichen Buch "Kinder brauchen Märchen" auf deren Wirkungsmöglichkeiten folgendermaßen hin: "Die meisten Kinder begegnen Märchen lediglich in verniedlichten, vereinfachten Versionen, die den Sinn entstellen und eine tiefere Wirkung unmöglich machen. Märchen werden auf bedeutungslose Unterhaltung reduziert. Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte stützte sich das intellektuelle Leben des Kindes - abgesehen von unmittelbaren Erfahrungen innerhalb der Familie - auf Märchen, Mythen und Legenden. Diese traditionelle Literatur speiste die Vorstellungskraft des Kindes und regte es zum Fabulieren an. Da diese Geschichten die wichtigsten Fragen des Kindes beantworteten, waren sie gleichzeitig eine bedeutende Kraft zu seiner Sozialisation. Mythen boten Material, aus dem die Kinder ihre Auffassung von Ursprung und Zweck der Welt und von den erstrebenswerten gesellschaftlichen Idealen bildeten.

Die überragende Bedeutung des Märchens für das Wachstum des Menschen liegt aber nicht in der Belehrung über richtige Verhaltensweisen in dieser Welt, weil sie dazu anregen, eigene Sinnfragen zu stellen und eigenständige Antworten zu liefern. Märchen erheben nicht den Anspruch, die Welt so zu beschreiben wie sie ist, sie raten auch nicht, was man unternehmen sollte. Aus dem, was die Geschichte von menschlicher Verzweiflung, Hoffnung und Überwindung der Notlagen erzählt, kann der Leser oder Zuhörer nicht nur die Lösung eines Problems, sondern auch den Weg zur Selbstfinden entdecken - gleich den Helden der Geschichte.“

Märchen-Bilder

Je länger man sich mit der Rezeptionsgeschichte von Märchen beschäftigt, desto stärker drängt sich die Frage auf, was denn die Gründe für deren anhaltende Popularität sein könnten. Vielleicht hat sie mit der Erzähltradition zu tun, aus der sie stammen. Ehe die Brüder Grimm sie aufschrieben, wurden Märchen erzählend weitergegeben. Dadurch ist viel Zufälliges durch das Erzählen verschiedener Menschen durch die Zeit hindurch herausgefallen, wodurch Märchen uns quasi als Destillat Bilder und Geschichten übermitteln, die für viele Menschen Gültigkeit haben. 

Diese Märchen-Bildsprache regt im Leser ebenso wie im Theaterzuschauer eigene Bilder an und lockt die imaginativen Fähigkeiten hervor. Märchen sprechen nicht so sehr das logische als vielmehr das ganzheitliche Denken an, also die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erschauen und zu erfühlen, in größeren Zusammenhängen zu denken, aber auch das Bedürfnis nach dem nicht ganz Durchschaubaren, dem Geheimnisvollen, das viele Entwicklungsmöglichkeiten in sich birgt. Das Erleben in Bildern regt aber auch an, diese Bilder zu deuten.

Das aber soll jedem Zuschauer, abhängig von seiner Herkunft, seiner Lebenserfahrung, seiner kulturellen Zugehörigkeit, selbst überlassen bleiben. Märchen sind vielfältig auslegbar. Aufgrund der ihnen eigenen Offenheit, des Fehlens an eindeutiger Sinnfestlegung, lassen sie der produktiven Phantasie des Zuhörers beträchtlichen Spielraum. Dieser sollte nicht verkleinert werden. 
 

Märchen-Theater

Märchenbearbeitungen für die Bühne sind beliebt. Erwachsene Theatergänger in Begleitung von Kindern erhoffen sich von dem Theaterbesuch, in ihre eigene Kindheit zurückgeführt zu werden. Doch das geschieht in den wenigsten Fällen. In Wirklichkeit hat jeder Märchenfreund, egal welchen Alters, Bilder von Hänsel und Gretel, Dornröschen oder dem Tapferen Schneiderlein vor seinem inneren Auge, die nicht zu übertreffen sind, weil es die eigenen sind. Eine Enttäuschung nach dem Theaterbesuch ist vorprogrammiert. Auch Charles Dickens hätte nur mit einem Rotkäppchen sein Glück gefunden, das seiner eigenen Vorstellungskraft entsprungen wäre. 

Werfen wir einen Blick auf das Hexenhaus. Für Hänsel und Gretel ist es ein Ort der Bewährung, ein Ort, an dem für die beiden Kinder Entscheidendes geschieht. Wie unheimlich-heimlich muss solch ein Ort aussehen? Sicher erzielen Pappmaché-Lebkuchen auf einem ausgesägten Holzhäuschen nicht die nötige Wirkung. 
Ein anderes Beispiel: Die Hexe besteht aus dem vollkommen Guten und dem vollkommen Bösen. Sie hat beide Aspekte in sich. Zunächst ist sie unwiderstehlich reizvoll, weil sie die Wünsche der Kinder erfüllt. Erst danach zeigt sich ihre andere Seite. Eine alte Bucklige mit Hakennase ist zwar das gängige Klischee einer Märchenhexe, aber es erfüllt seine Aufgabe nicht. Welcher Zuschauer kann denn glauben, dass die beiden ausgehungerten, ausgesetzten Kinder einer solch unheimlich ausschauenden Figur auf den Leim gehen würden? 

Peer Boysen hat für jede Figur Bilder gefunden, die Eindeutigkeit vermeiden. Je vielschichtiger Bilder werden, je märchenhafter und geheimnisvoller, umso besser kann jede Vereinfachung, jede Eindeutigkeit vermieden werden und umso mehr Raum entsteht für die Vorstellungskraft eines jeden Zuschauers.

Märchen-Welt

Gretel: "Hänsel, komm schnell her!"
Hänsel: "Ich kann nicht mehr,
Mir geht die Puste aus."
Gretel: "Hänsel, hier steht ein Haus.
Aber es ist nicht aus Stein!"
Hänsel: "Das kann doch nicht sein!
Ein Haus aus lauter Kuchen!
Komm, lass uns versuchen,
Ob man es essen kann."
Gretel: "Fass es lieber nicht an!
Schau erst mal rein,
Es könnte jemand drinnen sein.
Wer weiß, was geschieht,
Wenn man dich sieht.“

Mit diesen Worten entdecken die beiden Kinder das geheimnisvolle, lockende Lebkuchenhaus. Anhand dieses kleinen Ausschnitts wird die Form unserer Spielfassung deutlich. Der Autor hat die ganze Geschichte in Reimen verfasst, in Reimen, die an alte Kinderbücher erinnern und an frühe mechanische und automatische Musikinstrumente: Spieldosen, Aufzieh-Musikinstrumente, Orchestrions, Stiftwalzenorgeln, Glockenspiele, Leierkasten, Äolsharfen, Erzgebirgskrippen mit sich drehenden Figuren, Pianola und Drehorgeln. Diese Assoziationen lassen sich auch im Bühnenbild wieder finden. Man kann an Puppen auf einem Mechanismus denken; an Figuren, die sich während des Erzählverlaufs in gefahrvollen Situationen begegnen, und die - gedrängt in sich mechanisch verwandelnden Konstellationen - immer neue Listen anwenden müssen, um schicksalhafte Abgründe und ausweglose Aufgaben bewältigen zu können. Und am Schluss gibt es eine Lösung für alle Schwierigkeiten. "Da war Freude in allen Ecken und alle Not und Sorge hatte fortan ein Ende.“

Wolfgang Wiens

Wolfgang Wiens ist 1941 in Stettin geboren. Er arbeitete als Dramaturg am TAT in Frankfurt, an der Schaubühne, Berlin, in Köln, am Thalia-Theater in Hamburg und am Burgtheater in Wien. Er war Verlagslektor und Mitbegründer des Verlags der Autoren in Frankfurt und Übersetzer von Shakespeeare, Moliere und Tom Waits "Black Rider".