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Magdalena

Dauer

90 Minuten

Alter

Ab 14 Jahren

Premiere

14. April 1994
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Der Autor

Wer kennt sie nicht, Ludwig Thomas Lausbubengeschichten, den Münchner im Himmel, Josef Filsers Briefwechsel oder die Geschichte von der unliebsamen Tante Frieda, deren Papagei der Lausbub Ludwig "mit einer Stranitze voll Pulver" so zurichtet, dass die Tante so geschrien hat, "als ob sie auf einem Spieß steckt."
Thoma wurde bekannt durch seine humorvollen, satirischen und auch gesellschaftskritischen Erzählungen, die sich nicht alle so harmlos ausnehmen wie seine Tante Frieda-Geschichten. Seine Artikel im "Simplicissimus" zum Beispiel wandten sich gegen monarchisch-bürgerliches Spießertum, gegen wilhelminisches Pathos, gegen Kirche, Justiz und jede andere Art von Autorität.

Thomas Ansehen litt jedoch beträchtlich, als seine Publikationen bekannt wurden, die er anonym am Miesbacher Anzeiger veröffentlichte und die als Zeugnis seines extremen, politischen Gesinnungswechsels nach dem ersten Weltkrieg gelten - geschrieben in den letzten 14 Monaten seines Lebens, die geprägt waren von seiner aussichtslosen Liebe zu einer Frau und dem fortgeschrittenen Stadium von Magenkrebs.
Ludwig Thoma hat neben Erzählungen und Romanen auch Theaterstücke geschrieben, die komisch und satirisch sind, aber auch eines, das sehr ernst und wirklich bedeutend ist: das Volksstück MAGDALENA.

Das Stück

Die Bauerntochter Magdalena, genannt Leni, verlässt den Hof ihrer Eltern und geht in die Großstadt, weil sie sich dort einen größeren Verdienst erhofft. Sie lernt einen Mann kennen, der ihr die Heirat verspricht, sie aber sitzen läßt und obendrein noch um ihr gespartes Geld prellt. Mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wird sie von der Polizei zurück zu ihren Eltern gebracht. Das ganze Dorf wartet voller Schadenfreude auf ihre Ankunft.
Kurz davor rang Magdalenas todkranke Mutter dem Vater das Versprechen ab, die Tochter nicht zu verstoßen. Unter dem Johlen und Pfeifen der Dorfjugend gibt der Gendarm Leni zu Hause ab. Bevor die Mutter stirbt, muß Leni ihr versprechen, nicht mehr zurück in die Stadt zu gehen und zur Rechtschaffenheit zurückzufinden.
Nach dem Tod der Mutter leben Vater und Tochter, angefeindet und isoliert von der Dorfgemeinschaft, auf dem Hof. Leni leidet unter der Strenge des Vaters, sie darf das Haus nicht verlassen. Sie versucht jedoch, sich Mühe bei der Arbeit zu geben und den Druck der dörflichen Anfeindungen auszuhalten.
Erst als Aushilfsknecht Lenz, mit dem sie gerne anbandeln möchte, sie auch verstößt, beschließt sie, zurück in die Großstadt zu gehen.
Sie läßt einen Bauernburschen nachts in ihre Kammer und bittet ihn um etwas Geld. Am nächsten Morgen weiß die ganze Stadt von dem Vorfall. Der Bürgermeister samt Ausschuß fordert, daß Leni das Dorf verläßt. Ihr Vater sieht nur noch einen Ausweg...

In einem Brief äußert Thoma selbst:
"Meine Magdalena entstand fix und fertig im Kopfe, seiner Zeit, als ich in Egern die Fronleichnamsprozession durch die Felder ziehen sah. Die kleinen, weißgekleideten Mädel, die hinter dem Pfarrer hertippelten, machten mir einen rührenden Eindruck. Was wird aus ihnen werden? Wie lange halten sie fest an dem Kinderglauben? Und plötzlich stand ein Schicksal von so einem armen Ding vor meinen Augen..."
Thoma formulierte vorab einen Aspekt, der uns an seiner MAGDALENA interessiert: der Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein.

Leni, oder wie wird man erwachsen?

In einem Gespräch der Mutter mit dem Kooperator (Geistlicher) erfahren wir etwas über Lenis Lebensweg. Schon als Kind sei Leni oft krank gewesen und für die Bauernarbeit eigentlich zu schwach, behauptet die Mutter. Deswegen habe sie eine Lehre als Näherin gemacht und sei in die Großstadt gegangen. Aber auch in der Großstadt kommt Leni nicht zurecht. Sie schafft es nicht sich durchzuschlagen. Sie hat nicht gelernt für ihr eigenes Leben – sei es nun im Dorf oder in der Stadt – die Verantwortung mit allen Konsequenzen zu tragen. Wir erfahren nur in Andeutungen, was Leni in der Stadt tatsächlich gemacht hat. Ob sie nun wegen Gelegenheitsprostitution aufgegriffen wurde oder wegen eines anderen Deliktes, läßt sich nicht eindeutig klären. Jedenfalls wurde sie von der Polizei aufgegriffen, verbüßte eine Haftstrafe und wurde zu ihren Eltern zurückgeschickt (Leni ist im Stück ca. 18 Jahre, 1912 war man erst mit 21 Jahren volljährig).

Leni versucht, ihr eigenes Leben zu leben. Ohne Rücksicht auf ihre Eltern und die Dorfgemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist. Sie denkt nur an ihr individuelles Glück, das sie mit ihren Mitteln durchzusetzen versucht. Ihre Träume und Hoffnungen stehen im Gegensatz zur Realität. Sie scheitert letztendlich aber nicht nur an ihrer eigenen Unfähigkeit, sondern auch an der Wertewelt ihrer Umgebung, an der sie gemessen wird, an den Moralvorstellungen der Dorfbevölkerung.
Ist diese Problematik heute noch aktuell? Wir denken schon, denn Erwachsenwerden ist ein Vorgang, der immer aktuell ist. In unserer heutigen Gesellschaft glauben viele auf ihre eigenen individuellen Kräfte bauen zu können. Sie glauben, daß sie ihr Leben unabhängig von moralischen und gesellschaftlichen Normen gestalten können. Aber wer sich den gegenwärtigen gesellschaftlichen Regeln nicht anpasst, hat wenig reale Zukunftschancen.
In unserer multimedialen Welt, in der jungen Menschen ständig mit Abenteuer- und Freiheitsversprechungen berieselt werden, ist es schwer, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Die Erziehung zum eigenständigen, selbstverantwortlichen Handeln gerät angesichts des zunehmenden Einflusses z.B. der Massenmedien immer mehr in den Hintergrund.

Ausgrenzung

Leni geht also ihren eigene Weg, bricht aus der Dorfgemeinschaft aus, um in die Großstadt zu gehen: Damit allein verletzt sie schon eine Grundregel der Gemeinschaft: wenn man auf einem Hof aufwächst, bleibt man auch da und übernimmt den Hof der Eltern. Daß Leni in der Stadt auf den falschen Weg geraten ist, hat sich längst im ganzen Dorf herumgesprochen. Als sie "am Schub" von einem Gendarm heimgebracht wird, ist das der Auslöser, Leni und ihren Vater aus der sozialen Gemeinschaft auszugrenzen. Für Leni besteht nicht die geringste Chance der Integration. Egal ob sie diese nun anstrebt oder nicht. Doch der Deckmantel der Dorfgemeinschaft wird nur dazu benutzt, die eigenen Interessen der Bürger durchzusetzen. Da ist zum Beispiel der Bürgermeister, ein Großbauer, der schon seit längerer Zeit mit dem Gütler Paulimann, Lenis Vater, zerstritten ist. Er beruft sich natürlich auf seine Funktion, das Dorf nach innen und nach außen verantwortlich zu vertreten. Da  "...leid’n amal koane, de si mit da Schand’s Brot vadeant", so verteidigt er den Beschluß, Leni aus dem Dorf zu verbannen. Dahinter verstecken sich ganz eigennützige Gedanken, denn er weiß, daß Paulimann den Hof allein nicht bewirtschaften kann. Er spekuliert darauf, das Paulimannsche Gut selbst zu kaufen.

Auch alle anderen hetzen und schimpfen, um sich selbst dabei ins bessere Licht zu rücken. Wenn man die Fehler anderer öffentlich anprangert, lassen sich die eigenen besser vertuschen.
Hinzu kommt die Angst: Einerseits die Angst vor dem Fremden, denn Leni hat eine zeitlang in der Großstadt gelebt und die Leute vom Dorf haben wahrscheinlich nur eine vage Vorstellung, wie das Leben außerhalb des Dorfes funktioniert – und andererseits die Angst, daß der 'Vorfall' doch über die Dorfgrenze heraus bekannt wird: "Geh nüber ins nächste Dorf! Schrei'n dir's de Buab'n auf der Straße nach, was mir san."
Als sich das Gerücht herumspricht, dass Leni einen Burschen in ihre Kammer eingelassen und Geld genommen hat, verstärkt sich der Druck auf Leni und ihren Vater, steigert sich so weit, daß die johlende Meute fast das Paulimannsche Anwesen stürmt und Selbstjustiz verübt. Paulimann kommt ihnen zuvor.
Die Dorfgemeinschaft wird so zur schlimmen Bedrohung von außen. Leni hat nicht die geringste Chance, sich zu wehren. Das sozial schwächste Glied in der Gemeinschaft, das Schutz am nötigsten hätte, wird nur noch weiter in die Enge gedrängt, vernichtet.

Schande ist schlimmer als der Tod

Woran liegt es, daß die Dorfbewohner so gegen Leni aufgehetzt sind? Welche Fehler hat sie begangen? Welche Moralvorstellungen herrschten? Während des Handlungsverlaufs kann man nur ahnen, was Leni in der Stadt angestellt hat. Erst gegen Ende des Stückes wird offensichtlich, weshalb Leni angeklagt wird: sie hat Geld von einem Mann angenommen. Die damaligen Moralvorschriften waren nun nicht so eng, daß den jungen Leuten ein Sexualkontakt untereinander untersagt war, im Gegenteil, es wurde als normal erachtet, wenn die Bauernjugend ihren sexuellen Wünschen nachging. Doch gibt es eine klare und eindeutige Grenze: für die Liebe darf kein Geld angenommen werden! Genau dieses Verbrechens machte sich Leni laut Dorfgemeinschaft schuldig. Was zuerst als Gerücht die Runde macht, gilt als bewiesen, als Leni vom Bauernburschen Geld verlangt. Die moralische Grenze ist überschritten. Man duldet sie nicht länger im Dorf, denn die SCHANDE, so befürchtet man, färbt auf alle ab.

Auch Lenis Eltern argumentieren mit dem Ehrbegriff. Ihr Vater ist überzeugt davon, daß die Ehre der Eltern durch die Kinder verletzt werden kann: "Mir hamm's aufzog'n; und lobt ma oan für guate Kinder, nacha farbt aa d'Schand ab. Es is net anders." Und er formuliert es noch härter: "Wia'r uns der Bua tot aus'n Holz hoamtrag'n is worn, da hab i gmoant, es is uns des ärgste g'schehg'n. Heut woaß i, dass dös a leicht's war."

Vergebung

Leni hat offensichtlich – in den Augen der anderen – einen Fehler gemacht. Sie findet auf keiner Seite Erbarmen, geschweige denn Vergebung. Ihre Eltern verurteilen sie, von kirchlicher Seite ist auch kein Beistand zu erhoffen und die soziale Gemeinschaft des Dorfes verhält sich alles andere als sozial. Es gibt niemanden, der Leni hilft, sie ist völlig allein und hat keine Chance jemals wieder in diese Gemeinschaft integriert zu werden.
Wie ist es denn heute, wenn Jugendliche leichtsinnig Fehler begehen?

Verzeiht unsere Gesellschaft Fehler? Soviel ist klar: wer in seiner Jugend straffällig geworden ist, sei es, weil er ein Auto aufgebrochen hat oder einen Zigarettenautomaten, wegen Drogen erwischt wurde oder beim Kaufhausdiebstahl – er oder sie ist gezeichnet.
Eine Jugendsünde hat Folgen: in der Schule, bei der Lehrstellen, bei der Jobsuche... Wenn sich Jugendliche nicht an bestehende gesellschaftliche Normen halten, wird ihnen eine soziale Integration oft versperrt. Schwache Mitglieder der Gesellschaft werden immer weiter ausgegrenzt, denn sie passen nicht in unsere leistungsorientierte Welt.

Schuld

"...ob mir net aa schuld san, daß unser Madl schlecht worn is.", überlegt sich Mariann, Lenis Mutter. Und der Vater entgegnet: "Hat de bei uns a schlecht's Beispiel g'habt?" Wer war nun schuld, daß Leni 'schlecht' wurde? Inwieweit prägt Erziehung einen Menschen, ab wann ist ein junger Mensch selbst für seine eigenen individuellen Entscheidungen verantwortlich?

Leni selbst leidet nicht unter großen Schuldgefühlen. Sie hat einen eigenen Begriff von Recht und Schuld. Immer wieder betont sie: "I hab no neamd nix g'stohln...". Für das, was sie in der Stadt getan hat, hat sie ihrer Ansicht nach die Strafe verbüßt. Ihre Eltern und die anderen aus dem Dorf sind anderer Meinung. Sie suchen einen Sündenbock, dem sie alle Schuld zuweisen können, um sich selbst reinzuwaschen.
 

Der Regisseur

"Magdalena" ist Peer Boysens fünfte Inszenierung an der SCHAUBURG.
Einige von Ihnen kennen wahrscheinlich die eine oder andere seiner letzten Arbeiten ("Der Sohn des Chao", "Weißt du, wo mein kleiner Junge ist?", "Ixypselonzett" und "Der Polenweiher") und können sich denken, daß sie kein naturalistisches Bauerntheater erwarten wird.

Es gibt weder eine realitätsgetreue Bauernstube noch werden sie den unverfälschten dachauer-bayerischen Dialekt auf der Bühne hören. Boysen ist viel mehr interessiert an der Nähe des Stücks zum Expressionismus, sowohl was seine Bilder, seine Figuren und die Sprache betrifft. Das Fremde und das Ungehobelte, das zum Beispiel in der Sprache steckt, sind viel spannender als jede Form der Nachahmung der Realität.