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Nach Euripides
Deutsch von Monika The
Regie
Kirsten Dehlholm
Bühne und Kostüme
Maja Ravn
Light Design
Jesper Kongshaug
Musik
Toni Matheis
Stimmtraining
Franziska Pörschmann
Es spielen
Lisa Huber, Matthias Friedrich, Christof Thiemann, Peter Wolter, Marion Niederländer, Dirk Laasch
Dauer
80 MinutenAlter
Ab 8 JahrenPremiere
05. Juni 1997Nächste Termine
Glück und Leid
Zwei Kinder stellen fragen. Fragen an ihre Mutter. Denn ihre Mutter hat etwas Unvorstellbares getan. Hat ihnen etwas Unvorstellbares angetan.
Einst waren sie eine glückliche Familie: Der griechische Held Jason, seine kolchische Frau Medea und die beiden Söhne. Sie mussten zwar in der Fremde leben, in Korinth, doch das störte ihre Harmonie nicht. Zunächst nicht.
Medea ist stolz auf ihren Mann. Als Anführer der berühmten Argonauten war es ihm gelungen, zusammen mit den fünfzig mutigsten Helden Griechenlands das erste seetüchtige Schiff der Griechen zu bauen. Damit hatten sie sich bis nach Kolchis im Osten des Schwarzen Meeres (heute Georgien) gewagt, um das wertvolle Goldene Vlies zu erobern.
Jason andererseits ist stolz auf seine strahlende Frau Medea. Denn nur mit ihrer Hilfe gelang die mutige Tat. Medea war eine junge Kolcherin, die von ihrer Mutter die Kunst des Zauberns gelernt hatte. So konnte sie den Drachen, der das wertvolle Vlies bewachte, zunächst mit Zaubergesängen betören, um ihm einen Trank in die Augen zu träufeln, während Jason mit dem Goldenen Fell des geflügelten Widders zum Schiff eilen konnte.
Gemeinsam fliehen die beiden, und Medea muß Vaterland, Haus und Eltern zurücklassen. Aber auch dort, wo Jason eigentlich zuhause ist, im griechischen Iolkos, können sie keine Bleibe finden. Zwar hatte Jasons Onkel zugesagt, Thron und Zepter zurückzugeben, falls Jason das Goldene Vlies mitbringe. Aber als es soweit ist, hält er sein Versprechen nicht. Jason uns Medea finden Unterschlupf in Korinth.
Zehn Jahre leben sie dort. Zwei Söhne werden geboren. Im Laufe der zeit wird Jason immer unzufriedener. Den Lebensunterhalt für die Familie kann er zwar verdienen. Aber er will Macht und gesellschaftliches Ansehen. Er will den Thron. Hier beginnt das Stück.
Jason heiratet Glauke, die Tochter des korinthischen Königs Kreon. Erst als der Hochzeitstermin schon feststeht, setzt Jason seine Frau Medea von seinen Plänen in Kenntnis und fordert sie auf, freiwillig auf die Ehe zu verzichten. Und um das Maß der Unverschämtheit noch vollzumachen, behauptet er, er tue dies nicht aus Liebe, sondern um den gemeinsamen Söhnen den Status als Prinzen zu verschaffen.
Die Kinder sind von diesen Plänen begeistert. Wenn der eigene Vater König von Korinth wird, dann gehört ihm das ganze Land. Und somit auch ihnen. Und sie würden endlich echte Griechen. Der Makel des Barbarentums wäre beseitigt. Denn in den Augen der Griechen herrschen im Land der Kolcher, der Heimat ihrer Mutter, raue Sitten. So werden dort die Männer nicht bestattet oder verbrannt. Man hängt die toten Körper vielmehr in rohe Stierfelle gewickelt an Bäumen auf, fern von der Stadt und überlässt sie der Luft zum Austrocknen.
Medeas Gefühle laufen Amok, im Innersten verletzt, von rasendem Schmerz gepeinigt, völlig außer sich. Dem Verrat des Ehemanns ist sie schutzlos ausgeliefert. Sie hat ihm alles gegeben, und soll dafür bestraft werden. Ihr Leben scheint sinnlos, verloren. Die klugen, Lebensweisen Worte der Amme verklingen ungehört. Medea sieht sich vernichtet durch ihren Ehemann.
König Kreon fürchtet ihre Zauberkünste im Zusammenhang mit ihren Rachegefühlen so sehr, dass er die Mutter mit ihren beiden Kindern umgehend des Landes verweisen möchte, um die eigene Tochter Glauke vor diesem Hass zu schützen. Medea gelingt es, die Ausweisung um einen entscheidenden Tag herauszuzögern.
Sie verbietet dem Vater den Kontakt mit seinen Kindern und verweigert die Auskunft darüber, wohin sie mit den Kindern gehen will. Von Ägeus, dem König von Athen erfährt sie, dass es das Schlimmste für einen Mann sei, ohne Kinder zu sterben. Nun weiß Medea, wie sie Jason vernichten kann.
Im dunklen Licht des Todes erscheinen zwei verirrte Kinder. Es dauert eine Weile, bis sie sich finden. Und dann erkennen sie ihre Mutter. Medea. Die Kinder wollen weg von diesem finsteren Ort. Aber die Mutter kann nicht helfen. Sie sind im Land von Hades, dem Herrscher der Unterwelt. Von dort gibt es kein Zurück. Medea gesteht den Kindern, dass sie sie eigenständig getötet habe, um den Vater zu strafen.
Die Kinder stellen Fragen. Fragen über Fragen. Sie versuchen mit der Mutter, das Unvorstellbare zu erfassen. Sie wollen leben. Prinzen werden. Mit dem Vater Reisen machen. Mit der Amme spielen. Eine Mutter tötet ihre Kinder nicht. Und doch hat sie es getan.
Die Eltern Jason und Medea haben große Schwierigkeiten miteinander. Und die Kinder stehen dazwischen. Sie wollen es nicht, und doch ist es so. Wer hat Recht? Wer Unrecht? Was ist ehrlich, was ist falsch? Sicher ist nur: das, was die Eltern tun, wollen die Kinder nicht, das ist die Tragödie.
Heimlich-Unheimlich
Die Geschichte ist ungeheuerlich. Die Handlungsweise der Mutter unbegreiflich. Unheimlich. Wir schauen einer unglaublichen Geschichte zu. Die so faszinierend ist, dass sie seit Euripides immer wieder von unterschiedlichsten Autoren aufgegriffen und wiedererzählt wurde.
Die Bühne ist mit Holz ausgekleidet. Zwischen den Latten Schlitze, durch die manchmal Licht fällt. Vielleicht ein Ort im Wald oder eine Scheune auf einer Lichtung. Die Bodenfläche ist in drei Bahnen aufgeteilt. Die Figuren können ihre Bahn nicht verlassen. Nur im dunklen Licht des Todes herrschen andere Gesetze. Die Teilung des Raums verschwindet, die beiden Brüder und Medea können sich frei bewegen. Manchmal hängen geheimnisvolle Gegenstände im Raum, die nie den Boden berühren: ein Adler, ein Wolf, ein Tannenbaum, Blätter fallen in einer Szene. Man könnte an die Märchenwelt der Brüder Grimm denken. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas wird die Geschichte sehr leicht erzählt, wie man das mit alten, überlieferten Geschichten tut. Sie sind unterhaltend, spannend, und haben gleichzeitig eine große tiefe. Indem sie den Widerstreit und die Gewalt menschlicher Seelenkräfte aufzeigen, indem sie die Ungeheuerlichkeiten veröffentlichen, zu denen der Mensch fähig sein kann, haben sie eine erlösende Wirkung.
Das kann für Kinder sehr wichtig sein. Großwerden wird immer komplexer und undurchschaubarer. Einfache Antworten sind falsche. Obwohl die Sehnsucht danach bei jedem besteht. Es gibt sie nicht.
Wer behauptet, Kinder leben in einer glücklichen Welt, der irrt. Sie leben zusammen mit uns Erwachsenen in einer Welt. Und Kummer, Sorgen, Glück und Ängste werden gleichermaßen verteilt.
„Um den Wechselfällen des Lebens nicht hilflos ausgeliefert zu sein, muß man seine innere Kraftquellen erschließen, so dass Gefühle, Phantasien und Intellekt einander unterstützen und bereichern. Unsere positiven Gefühle verleihen uns die Kraft, unseren Verstand zu entwickeln; nur die Hoffnung auf die Zukunft lässt uns den Widrigkeiten standhalten, denen jeder von uns unvermeindlich ausgeliefert ist“ – sagt Bruno Bettelheim, und wir fügen hinzu, dass dies für Kinder wie für Erwachsene gilt. „Mich zieht das an, was nicht sofort erklärt werden kann, was erst wahrgenommen wird und vielleicht später verstanden wird. ...es ist Teil unserer Erziehung, dass wir verstehen müssen. Ich möchte das Verstehen auf den Moment danach verschieben. Das unbewusste nimmt viel mehr und schneller wahr als das Bewusste. All meine Vorstellungen sind Versuche, hinter das Bewusstsein zu gelangen, die Ebene reiner Sinneswahrnehmung und Verführung der Sinne zu erreichen.“
(Die Regisseurin Kirsten Dehlholm)
Form ist Inhalt
Die Sprache des Stücks ist knapp und kristallklar, ohne Pathos. Die Gefühle sollen beim Publikum erzeugt und nicht auf der Bühne ausgelebt werden. Sie erinnern an Musik, an Tanz.
Die Figuren agieren sehr reduziert. Es ist wie beim Lesen eines Märchens. Die Bilder entstehen im Kopf des Zuschauers statt auf der Bühne illustriert zu werden. Die Stimmen sind verfremdet. In den Szenen im dunklen Licht des Todes ist der von den Kindern gesprochene Text vervielfacht. So sind sie fragende Kinder und antiker Chor zugleich.
Auch andere Vorstellungen sind befreit von jedem Naturalismus. Der Spielstil ist reduziert und leicht zugleich. In der griechischen Tragödie trugen die Spieler ihren text in einer Weise vor, die wir heute eher Gesang als Sprechen nennen würden. Dafür haben wir eine moderne Entsprechung gesucht. Keine Gefühlsausbrüche und Weinkrämpfe. Vielmehr stehen in dieser Vorstellung Text, Bühne, Licht, Spieler, Kostüme gleichberechtigt nebeneinander, um in einer Sinfonie von Raum, Klang, Stimmen, Farben, Bildern die Geschichte einer Familientragödie zu erzählen.
Pauline Mol
Sie ist 1953 in den Niederlanden geboren, studierte Niederlandistik und Theaterwissenschaft. Mehrere Jahre arbeitete sie in einem Theaterkollektiv als Schauspielerin, Theaterpädagogin, Dramaturgin und Autorin, ehe sie sich entschloß, sich aufs Schreiben zu konzentrieren. Ihr Stück „Iphigenie Königskind“, ebenfalls eine Bearbeitung nach Euripides, war an der SCHAUBURG vor einigen Jahren zu sehen.
Kirsten Dehlholm
1985 gründete Kirsten Dehlholm das dänische Theater HOTEL PRO FORMA. Dieses hotel arbeitet mit einem vierköpfigen Mitarbeiterstamm und ist in einer hotelähnlichen Fabrikhalle am Stadtrand von Kopenhagen angesiedelt.
HOTEL PRO FORMA versteht sich als temporärer Zufluchtsort für die enge künstlerische Zusammenarbeit von Tänzern, Sängern, Lichtdesignern, Bildhauern, visuellen Künstlern und Schauspielern, die zu jeder Produktion neu eingeladen werden. Die künstlerische Arbeit von HOTEL PRO FORMA bewegt sich im Grenzbereich zwischen visuelle und bildender Kunst, Theater und Architektur. Insofern ist die Arbeit an ERZÄHL MEDEA ERZÄHL ein bisschen untypisch für Kirsten Dehlholm.
Fast nie geht sie von einem festen Theatertext aus, und meist spielt sie ihre Produktionen in Museen, Stadthallen, Kinos, Kaufhausdächern, statt im Theater. Mit vielen ihrer Produktionen hat HOTEL PRO FAMILIA in Europa, Mexico, Japan und Australien gastiert. In München war bisher eine Performance im Festival DANCE 93 von Kirsten Dehlholm unter dem Titel DER DIE DAS zu sehen.
Eurpipides
Er wurde 485 oder 484 v.Chr. auf der Insel Salamis geboren. 92 Dramen soll er verfasst haben, 17 Tragödien und ein Satyrspiel sind überliefert. Fünfmal siegte er beim Dramatiker-Wettbewerb im Athener Dionysos-Thetaer. Mit „Medea“, 431 uraufgeführt, errang er nur den dritten Preis. Euripides starb im Jahr 406 im makedonischen Exil.