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Seiten, die auf Grindkopf verweisen
Ein Libretto für Schauspieler von Tankred Dorst (Mitarbeit: Ursula Ehler)
1995 eingeladen zum Deutschen Kinder- und Jugendtheater-Treffen "Augenblick mal!" in Berlin 1995
nominiert für das Berliner Theatertreffen – Festspiele der bemerkenswertesten Theaterinszenierungen einer Saison im gesamten deutschsprachigen Raum
Regie und Ausstattung
Peer Boysen
Mitarbeit und Kostüme
Andrea Spanier
Musik
Toni Matheis
Puppenbau
Beniamin Sovetov
Übersetzer
Pjotr Gurin
Es spielen
Peter Ender, Michael Vogtmann, Martin Ontrop, Ercan Karacayli, Helena Lustinger, Sabine Zeininger, Katarina Klaffs, Silke Nikowski, Corinna Beilharz, Christoph Wettstein,
Panos Papageorgiou
Musiker
Lisa Huber, Alexander Hötzinger, Stefan Wildfeuer, Gunter Weyermüller
Nächste Termine
Grindkopf
Es war einmal ein König, der hatte einen großen Wald bei seinem Schloß. Niemand wagte sich da hinein, denn von denen, die es getan hatten, war keiner jemals wieder zurückgekommen. Der Sohn des Königs wuchs wohlbehütet auf. Da seine Eltern schon alt und ängstlich waren, hielten sie alles Schreckliche und Gefährliche von ihm fern. Mit Pölsterchen an den Knien und einem Seidenfaden um den Knöchel lebte er im Schloß.
Eines Tages kam ein Abenteurer und bat um Erlaubnis, den verbotenen Wald betreten zu dürfen. Der König wollte seine Einwilligung nicht geben, aber der Abenteurer ließ sich nicht abhalten. Im Gegenteil. Weil er gehört hatte, dass aus diesem Wald keiner mehr zurückkommt, genau deshalb wollte er es probieren.
Der Königssohn ließ den Abenteurer nicht mehr aus den Augen. Er beobachtete, wie dieser in den geheimnisvollen Wald ritt. An einem kleinen Waldsee stieg der Mutige vom Pferd und ging ein paar Schritte. Plötzlich verstummten die Vögel. In der Stille hörte man ein schlimmes Geräusch. Ein riesiger Arm streckte sich aus dem Wasser, ergriff das Pferd und zog es hinab. Aber auch jetzt kannte der Abenteurer noch keine Furcht.
Menschen eilten herbei, die dem Geheimnis auf den Grund gehen wollten. Im leergeschöpften See fand man einen Wilden Mann, den man ins Schloß schleppte und einsperrte. Wer war dieser Wilde, den bald vom Volke „Eisenhans“ genannt wurde? Ein Dämon? Ein Helfer? Die Menschen stellten ihm Fragen wie einem Orakel. Der Andrang war riesengroß.
Beim Spielen im Schlosshof ließ der Königssohn seinen Ball in den Käfig rollen. Als er ihn wiederhaben wollte, forderte Eisenhans den Käfig zu öffnen. Nach einigem Zaudern tat der Königssohn das Verbotene. Er entwendete der Mutter den Schlüssel, um so den Dämon zu befreien. Eisenhans gab ihm den Ball zurück und eilte hinweg, ohne sich umzusehen. Der Knabe aber folgte ihm in den dunklen Wald. Zurück blieben die traurigen Eltern.
Nach einer unheimlichen Nacht befahl Eisenhans am nächsten Morgen dem Königssohn, den Brunnen zu bewachen. Nichts durfte hineinfallen. Als er so saß und wachte, da begann der Brunnen zu reden, und er beugte sich tief hinunter ganz nah an sein Spiegelbild. Und wie er sich immer tiefer beugte, so fielen ihm seine Haare von der Schulter herab ins Wasser. Er richtete sich schnell auf, aber seine Haare waren schon vergoldet. Er band sich ein Tuch um den Kopf, aber es half nichts. Der Wilde Mann erkannte bei seiner Rückkehr sofort, daß der Junge das Gebot nicht befolgt hatte und verstieß ihn. Allerdings bot er ihm seine Hilfe an, wenn er in großer Not sei.
Da musste der Königssohn den Wald verlassen und ging immerzu, bis er zu einem Stadttor kam. Seine goldenen Haare hielt er versteckt. Abgerissen und elend landete er schließlich am Hof des Kahlen Königs als Küchenjunge.
Von den Töchtern des Königs wurde er als Grindkopf verspottet, da er seine Kappe nie vom Kopf nahm. Nur die jüngste Prinzessin hatte ihr heimliches Interesse an ihm gefunden. Sie lockte ihn in ihre Kammer und entdeckte ein Geheimnis. Aus lauter Neid und Gemeinheit forderten die drei Schwestern die sofortige Heirat der Prinzessin mit dem grindigen Küchenjungen. Diese konnte nicht ausgerichtet werden, weil das Land von einem gewaltigen Krieg heimgesucht wurde. Grindkopf verlangte ein Pferd vom König, um auch gegen den übermächtigen Feind zu kämpfen, aber er erntete nur Hohn und Spott. Da ging er in den Wald und bat Eisenhans um Pferd, Lanze und Rüstung. Eisenhans löste sein Versprechen ein und half.
Ein großer Teil von des Königs Leuten war schon gefallen, die Erde brannte, da jagte ein weißer Ritter über das Schlachtfeld und schlug den Feind in die Flucht. Diesen geheimnisvollen unbekannten Helden begehrte die Prinzessin zu heiraten.
Der König ließ ein teures Freudenfest mit Turnier ausrichten. Dort solle die Prinzessin den goldenen Apfel werfen. Wer ihn auffängt, bekommt die Prinzessin zur Frau. Und so geschah es. Die Prinzessin warf den Apfel, da jagte plötzlich der weiße Ritter heran und fing ihn mühelos. Das Staunen war riesengroß, als alle erkannten, was der Leser schon weiß: er war nicht nur der Ritter, der zum Sieg über den Feind verholfen hatte, sondern auch Grindkopf, der als Küchenjunge am Hof gearbeitet hatte, obwohl er in Wahrheit ein Königssohn war. An der Hochzeit nahmen seine Eltern – der Alte König und die Alte Königin – teil, und die Musikanten spielten eine schnelle, helle Musik. Der Abenteurer aber ging lachend davon.
Nicht zierlich werden
1850 erschien in der sechsten Auflage der Kinder – und Hausmärchen der Brüder Grimm jene Fassung des Märchens „Der Eisenhans“, die dem Autor als Vorlage diente für sein Stück GRINDKOPF. Das 1986 veröffentlichte „Libretto für Schauspieler“, wie Tankred Dorst diese Arbeit nennt, ist kein Theatertext im herkömmlichen Sinne, sondern eine mit Dialogen durchsetzte Erzählung. Die Form ist offen, Ort, Zeit und Handlung wechseln sprunghaft, ein Stationendrama als großer Bilderbogen wird in 43 Szenen vorgeführt. Wie kann das auf der Bühne bewältigt werden?
Zunächst muß das archetypische eines Märchens erhalten bleiben. Märchen sind nicht Geschichten von Individuen, sondern durch jahrhundertelange mündliche Überlieferung geformte allgemeingültige Darstellung existentieller Lebensfragen und deren erstrebenswerte Lösung.
Form und Gestalt eines gelesenen oder erzählten Märchens bieten dem Zuhörer Bilder an, mit deren Hilfe „unbewusste Inhalte zu bewussten Phantasien“(Bettelheim) werden können. Hänsel und Schneewittchen, aber auch die böse Stiefmutter übernehmen Stellvertreter-Funktion.
Um den Wert eines Märchens auf dem Theater nicht auf bloße Unterhaltung zu reduzieren, reicht die Illustration der geschriebenen Vorlage nicht aus. Es müssen Bilder gefunden werden, die dem Zuschauer dieselben Möglichkeiten lassen wie im erzählten Märchen. Ein holder Königssohn in Pluderhosen und Spangenschuhen oder eine Prinzessin im Burgfräulein-Outfit genügen nicht. Im Falle von GRINDKOPF half uns der Werdegang des Autors auf eine Spur.
Als Student in München hat Tankred Dorst 1953 begonnen, im Marionetten-Studio „Kleines Spiel“, das heute noch existiert, mitzuarbeiten. Man wollte nicht mehr die klassischen Stücke spielen, sondern war interessiert an Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und den groben, mächtigen Figuren des sizilianischen Puppentheaters. „Wir wollten mit der Unbekümmertheit von Anfängern gleich die ganze Gattung neu erfinden. Also schrieb ich das Stück selbst. Es waren Grotesken, Phantasiestücke. Wir mischten die Gattungen, manchmal gab es einen Erzähler, manchmal trat unter den Puppen ein Mensch auf, manchmal waren es musikalische Sketche.“ (Tankred Dorst)
Hier lag ein Schlüssel für unsere Arbeit. Peer Boysen und Andrea Spanier entwarfen ein riesengroßes Kaspertheater, worin Schauspieler, große und kleine Puppen, Halbpuppen, Schattenfiguren, Musiker, eine Sängerin und ein Erzähler wirken können.
Wirklichkeit auf dem Theater
„Es kommt vor, daß eine lebendige Person, wörtlich und körperlich auf die Bühne übertragen, hier auf einmal tot ist. Einige von Gerhard Hauptmanns Charakteren ist es so ergangen: und das wohl nicht deshalb, weil er es nicht verstanden hätte, wirkliche Menschen auf die Bühne zu stellen - das verstand er wie kein anderer - , sondern weil in ihnen nichts mehr von ihnen lebendig wird, was unsere Gegenwart bewegt. Diese Art von Wirklichkeit, in der sich Michael Kramer und College Crampton so natürlich wie unsere Nachbarn bewegen, ist offenbar nicht die unsere – eine gewiß eigenartige Tatsache: Ihr rundes dreidimensionales Leben rettet sie nicht vor dem musealen Verblassen.
Auf einmal, von der veränderten Zeit auf die Bühne gerufen, sind viel flachere, schemenhaftere Figuren lebendiger als sie: sie kennen die Grimassen der Clowns, die Sprünge der Gaukler, sie haben die sachliche Anmut der Marionetten, sie schnarren die trockenen Sätze der Komiker herunter und sie können singen. Ihre Faszination ist groß; sie bewegen sich nicht nur in den oberen Rängen der Literatur, sie rufen auch in den Music Halls, in der Operette, ja in den gewiß nicht anspruchsvollen literarischen Unterhaltungssendungen des Fernsehens den Beifall eines naiven Publikums hervor. Manche turbulente Show mit ihren Tänzen, Musiknummern und akrobatischen Attraktionen und mit einer billigen Handlung, die das alles unterbringen muß, fasst mehr vom zeitgenössischen Theater als etwa die Zeitstücke, die sich nur des Kostüms und einer gängigen Problematik bedienen, um up to date zu sein. (...)“ (aus: Tankred Dorst: Mein Theater und ich. Ein Selbstportrait, 1961)
Puppen sind auf der Bühne vollkommen willige Geschöpfe der Phantasie und gleichzeitig auf magische Weise lebendig. Da sie kein psychologisches Verhalten entwickeln können, wirken sie durch einen allgemein verbindlichen und verständlichen Kanon von Gesten und Haltungen, Farben und Formen. „Alles an ihnen ist außen, Abbild, Bewegung, vom künstlichen Auge bis in die äußerste Abstraktion.“ (Dorst) man kann jede Figur sofort ganz begreifen. Für das Märchen ist charakteristisch, dass es ein existentielles Dilemma kurz und pointiert darstellt. Seine gestalten sind klar gezeichnet, die Situationen einfach. Die Figuren sind nicht einmalig, sondern typisch.
Peer Boysen, Andrea Spanier und nicht zuletzt Toni Matheis als Komponist erzählen mit dem Ensemble das Märchen von der Entwicklung eines jungen Menschen vom Kind zum Erwachsenen, der unter Anleitung eines mit dämonischen Zügen behafteten Lehrers seine Selbstständigkeit findet, mit überhöhten theatralischen Mitteln, die an Jahrmarkt, Zirkus, Comedia denken lassen. Unmittelbar und direkt wie die Fabel sind die Bilder, die keiner Interpretation bedürfen. Man kann sie einfach aufnehmen.
Das Leben ist kein Kinderspiel
„Märchen sind die Reste der großen, alten Geschichten. Unsere eigentliche Historie. Parabeln um unser Leben, in Bildern erzählt, oft fragmentarisch, nie ganz geklärt. Sinn- und Rätselbilder. In ihnen finden wir die Grundmuster aller menschlichen Beziehungen wieder – Gewalt, Liebe, Tod.“ So begründete Tankred Dorst einmal in einem Interview sein Interesse an Märchen.
In unserer Kultur besteht noch immer die Neigung, besonders wenn es um Kinder geht, so zu tun, als existiere die dunkle Seite des Menschen nicht. Vor allem im Kindertheater werden Märchen gerne dazu missbraucht, von einer Samt-und-Seiden-Welt zu erzählen, in der es keine Probleme gibt. Damit tut man sowohl den jungen Zuschauern wie auch den Märchen unrecht.
"Nicht zierlich werden" haben sich Tankred Dorst und seine Mitarbeiterin Ursula Ehler selbst ermahnt, bei der Arbeit an einem Märchen, das sich speziell an Kinder richtet. Auch der GRINDKOPF ist nicht zierlich geworden. Und das ist gut so. Märchen sind archaisch, sie sind das Gegenteil von Heile-Welt-Geschichten, weil sie von existentiellen Schwierigkeiten erzählen, die es zu bewältigen gibt.
Dorst & Ehler
Tankred Dorst wurde 1925 in Thüringen geboren und wuchs dort auf. Soldat, Kriegsgefangenschaft, Studium (Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft) in Bamberg und München. Erste Stücke für das Marionettentheater „Kleines Spiel“ in München. Seit 1972 Zusammenarbeit mit Ursula Ehler. Lebt in München.
Stückauswahl: „Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt“, „Große Schmährede an der Stadtmauer“, „Toller“, „Kleiner Mann – was nun?“, „Eiszeit“, „Auf dem Chimborazo“, „Merlin oder Das wüste Land“, „Karlos“, „Korbes“, „Herr Paul“
Filme: „Rotmord“(Regie: Peter Zadek), „Sand“, „Piggies“, „Dorothea Merz“, „Klaras Mutter“
1990 erhielt Tankred Dorst den Büchner –Preis, 1994 wurde er von der Fachzeitschrift Theater Heute zum Autor des Jahres Gewählt.
P.S: Für Interessierte: der Theatertext von Tankred Dorst mit farbigen Zeichnungen von Roland Topor ist bei Insel Taschenbuch 929 zum Preis von DM 12,-- erschienen. Das komplette Grimm-Märchen liegt dem Vorbereitungs-Material zum Stück bei, das sie automatisch erhalten, wenn Sie eine Vorstellung für ihre Klasse buchen.