Seiten, die auf Ein Bild von Ivan verweisen

von Paula Fox
Uraufführung

Deutsch von Brigitte Jakobeit
Stückfassung Boris von Poser

Regie
Boris von Poser
Bühne
Timo von Kriegstein
Kostüme
Jessica Karge
Musik
Moritz Gagern
Es spielen
Sophie Wendt
Lucca Züchner
Markus Campana
Nick-Robin Dietrich
Peter Wolter

Spielort

Großer Saal

Dauer

90 Minuten

Alter

Ab 11 Jahren

Premiere

05. April 2016

„Während er über sein Leben in der Stadt nachdachte, wurde ihm klar, dass er fast immer von einem Erwachsenen irgendwohin gebracht oder abgeholt wurde, dass er sich fast den ganzen Tag an eine Leine klammerte, die am anderen Ende von einem Erwachsenen gehalten wurde – ein Lehrer, ein Busfahrer, eine Haushälterin oder ein Verwandter. Aber seit er Matt kannte, war der Raum um ihn größer geworden. Es war beängstigend, eine Leine loszulassen, aber er fühlte sich leicht und beweglich, nicht schwer und behäbig.“

 

Die rechts angegebenen Vorstellungen werden die letzten sein.

Nächste Termine

Kindheitsbilder

„Ein großer poetischer Entwurf, der Kindheit zart in Worte gießt und behutsam zu trösten versteht.“ So steht es in der Jurybegründung des Deutschen Jugendliteraturpreises aus dem Jahr 2008 für den Roman Ein Bild von Ivan. Die amerikanische Autorin Paula Fox ist eine hervorragende Menschenkennerin, deren Geschichten immer von Sehnsucht und Einsamkeit handeln. Am meisten versteht sie von Kindergefühlen, von Menschen zwischen Kindheit und Pubertät, von klugen Kindern, die eine skeptische Weltwahrnehmung haben und deshalb wesentliche Fragen stellen.   
Kindheit ist kein Zuckerschlecken, ist nicht rosa und süß – selbst dann nicht, wenn man fürsorgliche Eltern hat. Kindheit ist ein Lebensabschnitt, in dem man das ganze Spektrum menschlicher Gefühle durchlaufen muss: Zorn, Scham, Verlassensangst,

Ausgeliefertsein, Mitgefühl und natürlich auch zärtliche Liebe. Diese Emotionspalette ist eine große Herausforderung, und Kinder brauchen zu deren Bewältigung geistige Hilfestellung.
Es ist ein großer Glücksfall, dass Ein Bild von Ivan nicht nur durch die oben genannte Auszeichnung, sondern auch durch den LUCHS von Radio Bremen und der ZEIT viel Aufmerksamkeit bekam und zur Klassenlektüre wurde. Diese Geschichte ist eine, die vielen Kindern gut tun kann. Sie weckt Emotionen, die ihnen eine neue Sicht auf die Dinge ermöglicht. Dadurch kann sich ein innerer Motor in Bewegung setzen, wie Ivan es in dem Roman erleben darf: Zum ersten Mal sieht er etwas anderes als sich selbst und kann sich dadurch von Fesseln befreien, die ihm schwer auf seiner Kinderseele liegen.

Ivans Geschichte

Ein Bild von Ivan erzählt von einem 11-jährigen Jungen, dessen Vater so beschäftigt ist, dass der Junge keine Möglichkeit findet, ihn nach seiner verstorbenen Mutter zu fragen. Nicht ein einziges Bild von ihr kann er in der Wohnung finden.
Als er dem Maler Matt begegnet, der im Auftrag des Vaters ein Portrait von ihm anfertigen soll, nimmt sein Leben eine neue Wendung. Im Atelier lernt er Miss Manderby kennen, eine leidenschaftliche Leserin, die den Auftrag hat, ihm vorzulesen, damit er still sitzen kann. Weil die beiden so anders sind als alle Erwachsenen, die er bisher kennt, sind sie für ihn so interessant. Sie geben ihm Sicherheit und einen Kosmos, worin er auf eine Reise zu sich selbst aufbrechen darf. Dort gibt es Raum für Fragen, die nicht durch einfache Antworten abgeschnitten werden.
Im Buch heißt es an einer Stelle: „Ivan wurde klar, dass er fast immer von einem Erwachsenen irgend wohin gebracht oder abgeholt wurde, dass er sich fast den ganzen Tag an eine Leine klammerte, die am Ende von einem Erwachsenen gehalten wurde – ein Lehrer, ein Busfahrer, eine Haushälterin oder ein Verwandter. Aber seit er Matt kannte, war der Raum um ihn größer geworden. Es war beängstigend, die Leine loszulassen, aber er fühlte sich leicht und beweglich, nicht schwer und behäbig.“
In Matts Atelier beginnt er davon zu reden, - davon, dass er sich die erzählte Flucht seiner russischen Mutter auf einem Schlitten

 über die Grenze überhaupt nicht vorstellen kann. So beginnt Matt nebenbei, diese Szene zu malen: Zuerst den Schlitten in einer Schneelandschaft, dann kommt das Wachhäuschen dazu und schließlich die Familie in warmen Decken. Überraschenderweise haben sie vertraute Gesichter. Durch dieses Bild kann die wunde Leerstelle in Ivans Leben heilen.
Als Matt einen Auftrag in Florida bekommt, brechen Ivans Verlustängste erneut auf. Doch der Maler lädt ihn und Miss Manderby zu dieser Reise ein. Ivan bekommt dadurch die Chance zu der ungewöhnlichen Freundschaft mit dem Mädchen Geneva. Sie lebt ein ganz anderes Leben als er. Sie durchschaut Erwachsene sehr genau und kann sie wunderbar manipulieren. Sie traut sich, im Fluss zwischen Wasserschlangen zu schwimmen, und sie fährt mit einem kleinen Boot ganz weit raus. Weil sie keine Angst hat, traut sich schließlich auch Ivan. Bis die Ferien zuende sind.
„Plötzlich sah er, dass ihr eine große durchsichtige Träne langsam über die Wange lief. Ivan bekam einen furchtbaren Schreck und stand sofort auf, so als hätte ihn jemand gerufen. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. Sie versuchte nicht, die Träne wegzuwischen, sondern hielt ihm die Hand hin. (...) Er hätte nie gedacht, dass jemand traurig sein könnte, wenn er ging. Nie im Leben wäre ihm dieser Gedanke gekommen.“

Die Geschichte hinter der Geschichte

Ivans Mutter war bald nach seiner Geburt verstorben. Der Vater kann seinen Schmerz nur durch Schweigen bewältigen und hat kein Bewusstsein davon, was er dem Sohn mit seinem Verdrängen antut. Hätte er es geschafft, die Geschichte der Schlittenflucht und des Todes der Mutter zu erzählen, hätte er Ivan viele Jahre Einsamkeit erspart. Durch die Begegnung mit Matt, Miss Manderby und Geneva kann er in eine neue Welt eintauchen. Der Schlüssel dazu sind die Geschichten, die Ivan von ihnen geschenkt

bekommt: Matt erzählt durch das Schlittenbild etwas über seine Herkunft. Miss Manderby als Büchernärrin und Vorleserin glaubt sowieso an die Kraft von Geschichten. Und Geneva führt ein Buch der Dinge. Er lernt Emotionen zuzulassen und Gefühle zu benennen, die ihn umtreiben. Als ein ganz anderer Ivan kehrt er zu seinem Vater zurück. Mit Phantasie und innerer Kraft kann er die Leerstelle in seinem Inneren ergänzen. Und er fasst Mut, seinem Vater die wesentlichen Fragen zu stellen.

Erzählweise

Ein Bild von Ivan ist ein leiser, poetischer Roman, der im Jahr 1969 erschien und in unserer schnellen, schrillen Welt mit seinem ruhigen Erzählfluss fast wie eine Provokation wirkt. Genau das hat uns interessiert. Es ist gar nicht einfach für Großstadt-Kinder, unter der allgegenwärtigen Lärmglocke sich selbst zu finden. Gejagt von einem nicht endenden Strom von Impulsen und Reizen fehlen Momente der Besinnung, in denen man überhaupt entdecken könnte, ob man – wie Ivan – Leerstellen in sich spürt, die das Leben schwer machen. Zu viele Eindrücke, Geräusche, Geschwindigkeiten, Bedürfnisse, von denen man glaubt, nachgeben zu müssen, halten einen davon ab, die eigene Verlorenheit, den Mangel an Geborgenheit wahrzunehmen.
Paula Fox ist aufgrund ihrer eigenen Biographie eine Spezialistin für kindliche Heimatlosigkeit. Damit sind nicht Waisen oder

Flüchtlinge gemeint, sondern ganz normale Kinder, denen es nicht an Materiellem fehlt, sondern die Eltern mit echten oder vermeintlichen Verpflichtungen haben und ohne Nähe und Aufmerksamkeit heranwachsen müssen.
Obwohl die Fragen, die Ivan belasten, groß und ernsthaft sind, findet Paula Fox einen leichtfüßigen Ton. Sensibel und mit Humor schildert sie seine Entwicklung und vermeidet jeden besserwisserischen Kommentar. Nichts wird erklärt, die Figuren sind so liebevoll und präzise durch die Autorin zum Leben erweckt, dass nicht nur Ivan fühlt, wie sein Leben aufregender und lebendiger wird; auch der Zuschauer kann dieser wunderbaren Entwicklung nachspüren, um dorthin aufzubrechen, wo man neue Möglichkeiten erkennt.

Inszenierung

In dem Roman ist Miss Manderby geradezu büchersüchtig, und damit hat sie viel Ähnlichkeit mit Paula Fox. Aus der schwierigen Kindheit entfloh die Autorin durch Lesen in eine bessere Welt. In ihrer Autobiographie beschreibt sie das so: „Ich konnte aus den beengten Verhältnissen verschwinden und an anderen Orten wieder auftauchen, wo die Geschichten aus der Phantasie der Zuschauer spielen: Wo ein skrupelloser Ganove das Schicksal eines misshandelten Jungen verändert, wo eine Wasserratte und ein Maulwurf am Ufer eines Flusses picknicken, wo ein Waisenjunge Piraten zu einem vergrabenen Schatz führt, wo ein kleines Mädchen durch einen magischen Trunk so schrumpft, dass es in einen verzauberten Garten eintreten kann. Damals gab es natürlich noch kein Fernsehen. Aber wir hatten ein Radio. (...) Was für klangvolle Stimmen! Was für eine Fülle an Geräuschen: Gongs, Pferdegetrappel, Schiffssirenen, brechende Wellen, Nebelhörner, scheußliche Schurkenstimmen, klare, fröhliche von Helden und Heldinnen, und alles, alles unsichtbar und doch in einem Zimmer, wo ich zuhörte, ungleich lebhafter gegenwärtig als die Bilder heute im Fernsehen, die den Raum besetzen, den die Phantasie einst ins Grenzenlose dehnte.“
Wie muss eine Theaterinszenierung dieses luftigen, magischen und zugleich ernsthaften Textes aussehen, die der Vorlage gerecht wird, die  vergleichbare Impulse beim Zuschauer auslösen kann wie der Vorgang des Lesens?

Der Regisseur Boris von Poser hat eine theatralische Form und Ästhetik für diese Aufgabe gefunden. Er hat die Vorlage für das Ensemble bearbeitet und großen Wert darauf gelegt, die Geschichte wie unter einem Vergrößerungsglas zu zeigen, voller Empathie für alle Figuren. Die Spieler wechseln zwischen Rolle und Erzähler, wobei die Erzähltexte die Innenwelt Ivans hervorheben und die Zuschauer auf dem intensiven Entwicklungsweg des verschlossenen Ivan begleiten. Boris von Poser konzentriert sich nicht nur auf die vordergründige Handlung, sondern sucht immer die versteckte Geschichte dahinter. Paula Fox hat einmal gesagt: „Das Leben ist wie eine Eisschicht. Alles, worauf es ankommt, liegt darunter. Und alles, was du tun kannst, ist die Oberfläche zu beschreiben.“ Dies könnte man als Arbeitsauftrag für diese Inszenierung verstehen. Die Spieler vermeiden jeden Anflug von Mitleid für den Jungen, sondern ziehen ihn – zusammen mit den Zuschauern – in ihre eigene Welt. Und diese Welt wird nicht realistisch abgebildet. Stattdessen wird der Wechsel zwischen Spiel- und Erzählszenen offen gezeigt, sodass immer klar ist, dass eine Geschichte erzählt wird. Denn das ist das große Thema. Geschichten können Lebenshilfe sein. Eine wichtige Unterstützung dabei sind das Bühnenbild und die Musik. Durch sie werden Vorstellungsräume eröffnet, die nicht abbildend oder illustrierend wirken, sondern Freiräume im Kopf für jeden einzelnen Zuschauer öffnen und so den persönlichen Zugang erleichtern.

Paula Fox

Sie wurde 1923 in New York geboren. Sie ist die Grande Dame der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Wie bereits mehrfach erwähnt, war ihre Kindheit sehr schwierig. Ihre nur mit sich beschäftigten Eltern gaben sie ein paar Tage nach der Geburt in ein Heim. Sie wechselte zu Pflegeeltern, zur Großmutter, zurück zu

den leiblichen Eltern, lebte in Kuba und Amerika. Nur einmal hatte sie sechs Jahre das Glück, bei einem Pfarrer Schutz und Akzeptanz zu finden. Sie hat sechs Romane für Erwachsene und mehr als 20 Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. Paula Fox lebt in Brooklyn.

Boris von Poser

Er wuchs in Heidelberg auf, studierte Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Parallel zu seiner Ausbildung war er zwei Jahre im Assistententeam von Peter Zadek und an den Kammerspielen in München. Seit 1994 arbeitet er als Schauspiel- und Musiktheaterregisseur im gesamten deutschen Sprachraum. Seine

Inszenierung „Ippolit hat sein Sterben auf übermorgen verschoben, um sich mit Ihnen zu treffen“ nach F. M. Dostojewski war mehre Jahre im Spielplan der Kammerspiele. Boris von Poser ist an der experimentellen Web-Serie „Heute Müller“ beteiligt und hat das Buch „Traumberuf Regisseur“ veröffentlicht.

Timo von Kriegstein

Er wurde 1975 in Flensburg geboren, studierte freie Kunst an der Muthesius Hochschule in Kiel und der Ecole des Beaux Arts in Nantes. Er arbeitete als Bühnenbildassistent am Deutschen Theater Berlin, am Berliner Ensemble und an der Hamburgischen Staatsoper und war Artist in Residence in Watermill/New York bei Robert Wilson. Seit 2004 ist Timo von Kriegstein als freier

Bühnenbildnern in ganz Deutschland tätig. Seit 2005 leitet er die an der Ostsee stattfindende Kulturwoche „Unmarked Space“ und seit 2009 das Festival „Kaltstart Hamburg“. Seine erste Arbeit an der Schauburg war das Bühnenbild von Die Entdeckung der Langsamkeit.

Jessica Karge

Sie ist in einer renommierten Berliner Theaterfamilie aufgewachsen. An der Staatsoper Berlin machte sie eine klassische Ausbildung im Theater-Schneiderhandwerk, ehe sie anschließend als Kostümassistentin am Burgtheater Wien, für die Salzburger

Festspiele arbeitete. Schnell jedoch begann ihre selbständige Karriere als Kostümbildnerin im gesamten deutschsprachigen Raum, sowohl im Schauspiel wie auch in der Oper.

Moritz Gagern

Er wurde 1973 in München geboren und lebt als freischaffender Komponist in Berlin. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der interdisziplinären Verbindung von Musik mit Tanz oder mit besonderen Orten. Seine konzertanten Werke werden aufgeführt bei Festivals wie MaerzMusik Berlin, TonLagen Dresden, Festspielhaus Hellerau, in Taipei und Taschkent. Als Komponist fürs

Theater hat Moritz Gagern bei den Münchner Opernfestspielen, am Schauspielhaus Dresden, dem Residenztheater München, der Ruhrtriennale  und mehreren Theatern in Berlin gearbeitet. Mit Boris von Poser und Timo von Kriegstein verbindet ihn eine lange Arbeitsbeziehung.