Seiten, die auf Die Entdeckung der Langsamkeit verweisen

nach dem Roman von
Sten Nadolny

Fassung Beat Fäh

Regie
Beat Fäh
Bühne und Kostüme
Timo von Kriegstein
Musik
Taison Heiß
Es spielen
Regina Speiseder

Spielort

Großer Saal

Dauer

95 Minuten

Alter

Ab 13 Jahren

Premiere

10. Oktober 2015

"Die Entdeckung der Langsamkeit" ist ein historischer Abenteuer-Roman, dessen Protagonist positiver Held und Antiheld zugleich ist. Es geht um den britischen Seefahrer und Entdecker John Franklin, der tatsächlich von 1786 bis 1847 lebte. Erzählt wird sein Lebensweg vom wegen seiner Langsamkeit gehänselten Jungen zu einem geadelten und hochangesehenen Mann der britischen Gesellschaft, von seiner Kindheit in einer englischen Kleinstadt bis zum tragischen Tod in der Arktis.

Nächste Termine

Der richtige und der falsche Zeitpunkt

John Franklin ist anders. „John Franklin war schon 10 Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger eine Schnur halten konnte.“
Sein Wahrnehmungsvermögen unterscheidet sich fundamental von dem anderer Menschen; aus diesem Grund kann er bestimmte Handlungen und Bewegungen optisch nicht verfolgen und bietet
Gleichaltrigen eine breite Angriffsfläche. Heutzutage würde man es Mobbing nennen, was John durchmachen muss. Seine mühsamen Versuche, Schnelligkeit zu üben, scheitern jämmerlich und liefern ihn schutzlos dem Hohn der Dorfjugend aus. Dazu kommt die Verachtung des Vaters, die er schmerzhaft spürt. Sein Versuch, von zuhause abzuhauen, endet ebenfalls mit einer Niederlage. Aber er gibt nicht auf. Sein Sehnsuchtsort ist ein Schiff, er will zur See fahren.

John holt auf

Gerade seine verlangsamte Aufnahme von Eindrücken hilft ihm, Erkenntnisse über Menschen und Vorgänge zu gewinnen. Während seines ganzen Leben bleibt dieses vorgebliche Defizit das entscheidende Mittel zum Verstehen von Vorgängen und daraus resultierendem richtigem Handeln. Man könnte sagen, dass sein Handicap die Basis für seine Karriere als Seefahrer und Entdecker ist. Seine Stärke liegt nicht im Tempo, sondern in Sorgfalt und Umsicht. Gerade weil er so langsam ist, kann er Gelerntes sehr gut speichern. Mathematik wird zu seiner Stärke. Seine große Sehnsucht bleibt das Meer.
Der Vater versucht, ihm den Traum von der Seefahrt auszutreiben. Umsonst. John lässt sich weder durch Drill noch durch Sturm und Gefahr abschrecken. Er beobachtet, übt, lernt und landet tatsächlich bei der Kriegsmarine. „Nacht für Nacht wiederholt er die allzu schnellen Vorgänge des Tages in seiner eigenen Geschwindigkeit. Das waren eine Menge.“ Er steht seinen Mann, bis er an seine Grenzen stößt. In der Schlacht von Kopenhagen erwürgt

John einen dänischen Soldaten, weil er den angesetzten Würgegriff nicht schnell genug lösen kann. Den Schock, einen Menschen eigenhändig getötet zu haben und den Schrecken der Schlacht kann er nur schwer verarbeiten. „Mit dem Krieg, da habe ich mich geirrt.“ Halbwegs genesen meldet er sich wieder zur Marine und ist bei der Seeschlacht von Trafalgar gegen die Flotte Napoleons dabei. Aber das Chaos des Krieges ist für ihn nicht zu bewältigen. Patriotismus? Ehre? Begeisterung? Ekstase, Brüllen, Jubeln, Siegen? All das bleibt ihm fremd, obwohl er unabsichtlich zum Kriegshelden wird. „John Franklin, der stundenlang die Schnur in der Luft halten konnte, hatte auch Zeit zum Zielen. Er wollte erst schießen, wenn er so gut wie getroffen hatte.“ Statt Ruhm und Ehre zu genießen, strecken ihn Fieberfantasien nieder. Aber er gibt nicht auf. Entdeckungsreisen statt Seeschlachten werden seine neue Berufung. Sein großes Ziel ist die Entdeckung der Nordwestpassage, den kürzeren Seeweg von Europa nach Asien durch das kanadische arktische Archipel.

Starrer Blick oder Blick für Einzelheiten

Und schließlich erhält er wirklich das Kommando für ein Expeditionsschiff Richtung Arktis. Wieder erlebt er Skepsis und Misstrauen von Seiten der Mannschaft. Vor allem bei gefährlichen Situationen wirkt seine Ruhe unter den Seeleuten wie eine Provokation, bis sie erleben, dass nicht unbedingt Schnelligkeit, sondern gründliche Überlegungen die lebensrettende Entscheidung bringen können.
Während eines schlimmen Sturms findet sich die Mannschaft bereits mit dem sicheren Tod ab. Franklin bewahrt Ruhe und

beobachtet ohne Panik die Küstenlinie. So entdeckt er einen Fjord, in dem das Schiff Schutz findet. Sein überlegtes Handeln und die sorgfältige Beobachtung der Naturgegebenheiten bringen die bestmögliche Lösung. Schiff und Mannschaft sind gerettet.
Seine letzte Expedition allerdings ist nicht von Erfolg gekrönt. Die Schiffe werden im Eis eingeschlossen und Franklin stirbt an einem Schlaganfall. Mit der kompletten Mannschaft bleibt er verschollen.

Das Franklinsche System

So viel Durchhaltevermögen und Selbstvertrauen kann niemand alleine entwickeln. Die wichtigste Hilfestellung in John Franklins Leben leistet unbestritten der - fiktive - Lehrer und besessene Zeitforscher Dr. Orme, der nach ausgiebigen Untersuchungen erkennt, dass es sich bei John Franklins Langsamkeit um eine spezielle Art handelt, Dinge anders wahrzunehmen.
Dr. Ormes Studien fallen in die Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche in der ersten großen Industrialisierungsphase Englands. Sein Forschungsgebiet sind die zunehmend geforderte Schnelligkeit und die daraus entstehenden Probleme für Menschen. Dabei ist John ein wissenschaftlich interessantes Phänomen. Dr. Orme testet seine Reaktionsfähigkeit und diagnostiziert seine verzögerte Wahrnehmungsmöglichkeit ebenso wie seine mathematische Begabung. Außerdem fällt ihm das enorm gute Gedächtnis auf. Aus diesen Beobachtungen entsteht Dr. Ormes Schrift „Die Entstehung des Individuums durch Geschwindigkeit“, in der er die

„fatale Beschleunigung des Zeitalters“ dafür verantwortlich macht, dass langsame Menschen zu Tätigkeiten gezwungen sind, die ihrer natürlichen Geschwindigkeit nicht entsprechen. Deshalb rät er John Franklin, „auf die eigene innere Stimme zu hören und nicht auf die anderen.“
Durch Dr. Orme erfährt John sehr viel Zuspruch. Er beobachtet und analysiert seine Langsamkeit und lernt, sich selbst zu akzeptieren. Aus dieser Erfahrung entwickelt er seine eigene Spielregel, das von ihm so genannte „Franklinsche System“: Das bedeutet, seine Umgebung muss sich an seine Geschwindigkeit, also seiner Langsamkeit, anpassen. Die Zeit, die für gründliche Beobachtung und Überlegung aufgewendet wird, ist nie verlorene Zeit.
Hätte er als zehnjähriger Schnurhalter schon Wissen, Selbstvertrauen und Kraft zu dieser Regel gehabt, wäre ihm ganz bestimmt der schmerzliche Status des Außenseiters erspart geblieben.

Menschlichkeit durch Akzeptanz

Wer das wunderbare Buch von Sten Nadolny kennt, wird sich vielleicht an ganz andere Kapitel erinnern als an die hier beschriebenen. Der Eindruck ist richtig. Wir haben aus dem 400-seitigen Roman eine 90-minütige Aufführung herausdestilliert. Dabei waren Kindheit und Jugend des Helden John Franklin ein wichtiger Schwerpunkt. Andere Lebensstationen, z.B. mehrere Kriege, mehrere Expeditionen, mehrere Frauenbekanntschaften und Ehen haben wir in unserer Fassung geraffter behandelt.
Der Roman beruht auf dem Lebenslauf der authentischen Person John Franklin, die Sten Nadolny allerdings nicht faktengetreu nacherzählt. Er benützt die Biographie als Struktur und nimmt sich die Freiheit, diese mit seiner großartigen Erzählkunst auszubauen zu einer kurzweiligen und zugleich bewegenden Aufforderung zu Menschlichkeit.
Diesen Bearbeitungsprozess haben wir nun mit dem Einverständnis des Autors weiter geführt und in unserer Bühnenfassung im Hinblick auf unser Publikum dem jungen John Franklin mehr Raum gegeben als den folgenden Lebensabschnitten des erwachsenen Seefahrers und Entdeckers.
Ausgewählt haben wir Situationen und Szenen, die aufzeigen, wie groß die Herausforderung ist, einen Menschen wirklich zu akzeptieren, wenn dessen Art mit eigenen Prinzipien, Gewohnheiten, Vorstellungen nicht übereinstimmt. Diese Aufgabe sollte selbstverständlich sein und ist doch unendlich schwer. Wie schwer, das kann jeden Tag auf jedem Schulhof, in jedem Großraumbüro und

in der Politik beobachtet werden.
In der Vorbereitung haben wir den wunderbaren Bericht „Schulkummer“ von Daniel Pennac gelesen. Daraus ein kurzes Zitat, das auf Franklins Lehrer Dr. Orme zutreffen könnte.
„Dann erschien mein erster Retter. In der Troisième. Ein Französischlehrer. Der erkannte, wer ich war: ein ernsthafter und fidel auf den Abgrund zusteuernder Geschichtenerzähler. (...) Gewiss hat er sich gesagt, Legasthenie hin oder her, man müsse mich über das Erzählen kriegen. (...) Ich denke, in dem betreffenden Jahr habe ich in keinem Fall irgendeinen nennenswerten Fortschritt gemacht, aber zum ersten Mal während meiner ganzen Schulzeit hatte mir ein Lehrer einen Status zugeteilt: Ich existierte schulisch in den Augen eines anderen, ich war ein Individuum, das einen Weg zu verfolgen hatte und etwas bewältigen konnte, das von zeitlicher Dauer war. Überbordende Dankbarkeit für meinen Wohltäter, versteht sich, der, obwohl auf Distanz bedacht, der Vertraute meiner geheimen Lektüren wurde.“
Wahrscheinlich braucht jeder Mensch solche „Retter“ im Leben. Für John Franklin waren das neben Dr. Orme auch sein Onkel Matthew, der ihn als Kapitän auf die erste Forschungsreise nach Australien mitnahm und sein empathischer Kinderfreund Sherard Lound. Nur dank deren Vertrauen und Anerkennung gelingt es John Franklin, der berühmte Seefahrer und Polarforscher zu werden, als der er in die Geschichte eingegangen ist. Was für eine wunderbare Utopie!

Außergewöhnliche Leistung

Mit Beat Fäh verbindet uns eine mehr als 35-jährige Freundschaft und Arbeitsbeziehung (Von Mäusen und Menschen, Paronid Park, Der Sturm, Frühlings Erwachen! (LIVE FAST - DIE YOUNG), Der Schimmelreiter, Der Ruf der Wildnis).
Neben diesen Theaterarbeiten liegt sein zweites, inzwischen viel dominanteres Arbeitsfeld im Leistungssport. Er hat 23 Marathonläufe und 4 Iron Man absolviert. 2012 hat er seine Ausbildung zum Trainer Spitzensport Swiss Olympics mit Auszeichnung abgeschlossen und arbeitet als Nationalcoach Leichtathletik in der Schweiz.
Wenn man diese beiden Talente zusammennimmt, wundert es nicht, weshalb ihn der Roman Die Entdeckung der Langsamkeit von Sten Nadolny so fasziniert. Es ist das Unwahrscheinliche, Talentierte, Widerspenstige, das ihn an dem Stoff beeindruckt.
Entdeckergeist, Begeisterung, Scheitern sind nicht nur die Elemente, die in John Franklins Leben zu Außergewöhnlichem
führen. Genau diesen Einsatz erwartet er in der Arbeit. Auf der Bühne wünscht er sich Teamspieler, und zu diesem Team gehören nicht nur die Kollegen, sondern auch der Autor. Das heißt, aus der Beschäftigung mit dem Text entsteht die Form der Inszenierung. Das Schielen nach aktuellen Modernismen oder naheliegenden Bühnenlösungen ist ihm zuwider, weil er sie für eine Beleidigung der Zuschauer ansieht. Er sucht mit seinen Schauspielern die selbstverständliche Leichtigkeit auf der Bühne, die sich auf das Publikum überträgt und es für die Geschichte öffnet.
Dabei macht er absichtlich keinen Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, denn sein Stil ist direkt, zugänglich und tröstlich. Damit ergeben sich kleine Fluchtwege aus der Realität. Für alle, die sich selbst manchmal nur als Schnurhalter im Leben und nicht als Spieler fühlen. Diese Selbstwahrnehmung kennt man in jedem Alter.