Seiten, die auf Tamerlan verweisen

Deutsch von Astrid Windorf "Wie spielt man das Ende der Welt"
Regie und Ausstattung
Peer Boysen
Musik
Marika Falk, Toni Matheis
Es spielen
Klaus Haderer, Sabine Zeininger, Florian Stadler, Lisa HuberMarion Niederländer
Musiker
Marika Falk, Florian Mayr

Tamerlan

Dauer

65 Minuten

Alter

Ab 15 Jahren

Premiere

14. Oktober 1999
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Tamerlan oder "Wer ist der Stärkere?"

Unsere Vorstellung beginnt mit einer Behauptung: Die Welt ist leider untergegangen. Übrig geblieben ist nur ein kleines Fleckchen Erde – eine letzte Insel in der unendlichen Weite des Ozeans. Übrig geblieben sind auch Bing und Mato und ein alter Streit um die Frage, wer von den beiden der Stärkere sei. Der Anlass des Streits ist längst vergessen. Ist auch unwichtig. Wichtig ist, das Bing und Mato Streit haben. Und dass sie diesen Streit mit ingrimmiger Lust austragen.
Wir begegnen also einer fast alltäglichen Situation. Zwei Menschen messen ihre Kräfte. Jeder kennt das. Doch was wie ein sportlicher Wettkampf, wie eine spielerische Konkurrenzsituation aussieht, ist oft nur die Fassade eines erbitterten Machtkampfes. So auch hier: Bing und Mato sind in Michel Deutschs Stück „Tamerlan oder Wie spielt man das Ende der Welt“ zwei Spieler, die sich zu einem merkwürdigen Endspiel treffen. So wie andere „Schiffe versenken“, spielen sie „Tamerlan“ – „Tamburlaine the Great“ von Christopher Marlowe. Glücklicherweise hat Michel Deutsch die zwei Teile und zehn Akte auf den 500 Seiten des elisabethanischen Monumentaldramas erheblich abgespeckt: Nur zwei oder drei Sätze von Marlowe hat er in seine Fassung übernommen und das Stück ganz auf den Konflikt seiner Protagonisten Bing und Mato konzentriert, die sich in den Rollen des brutalen kirgisischen Feldherrn Timur der Lahme, ganannt Tamerlan, einer historischen Figur aus dem 14. Jahrhundert, und seines Kampfgefährten Theridamas in immer absurdere Machtphantasien versteigen.

In der Schauburg haben wir versucht, Deutschs Tamerlan-Endspiel in einem apokalyptischen Gruselszenario umzusetzen. Auf einer verdreckten Insel, umgeben von vergiftetem Wasser, tragen Bing und Mato als merkwürdige dickleibige Wesen ihren Konflikt aus. Von drei Seiten sitzen die Zuschauer um ein Wasserbecken, aus dem eine lehmbedeckte Insel hervorragt. Sie werden eingehüllt von einer fremden skythisch-orientalischen Klangwelt aus Trommeln und Schlagwerk aus aller Welt und dem Gesang eines Counter-Tenors. Eine Liane rankt sich um den Zuschauerraum, Totenschädel ringsum, halb im Wasser versunken liegt ein brennender Herd – in einer Art theatralischen Geisterbahn werden die Zuschauer Zeugen eines grotesken Machtrausches.

Wer ist Tamerlan? Ein Blick in die Geschichte

Timur der Lahme, genannt Tamerlan, wurde 1336 in der Nähe von Schachrisjabs geboren. In einer fast ununterbrochenen Reihe von Feldzügen unterwarf er ab 1370 große Teile Zentralasiens von der Türkei bis Südrussland und gründete das Tamuridenreich. Vermutlich war sein Ziel, das Reich Dschingis-Khans zu erneuern. Aufgrund der beispiellosen Grausamkeit bei der Durchführung seiner Feldzüge wurde er auch die „Geißel Gottes“ genannt. Er starb auf einem großen Feldzug nach China 1405. Seine Hauptstadt Samarkand (im heutigen Usbekistan) erblühte unter seiner Herrschaft zu einer prachtvollen Residenz. Zahlreiche Baudenkmäler aus dieser Zeit sind bis heute erhalten geblieben. Im Unterschied zu Dschingis-Khan fehlte es ihm als Erbauer eines Weltreiches jedoch „an dem klaren Blick und dem logischen Verstand des großen [Vorbildes]. Timurs Feldzügen scheint kein eindeutiges strategisches Konzept zugrunde gelegen zu haben, kein Plan einer ökumenischen Regierung, keine Vorstellung von einer geordneten Zukunft [...] und kein Sinn von Dauer.“ (Hambly, Gavin (Hg.): Fischer Weltgeschichte, Bd. 16 Zentralasien, Frankfurt/Main 1966) Die Lust am Krieg und der Rausch der Macht waren wohl die bestimmenden Faktoren für Timurs maßlosen Eroberungswillen. Unmittelbar nach seinem Tode zerfiel das Reich.

Tamerlan und Richard III

„[Er] ist ein abscheulicher Bösewicht: aber auch die Beschäftigung unseres Abscheus ist nicht ganz ohne Vergnügen; besonders in der Nachahmung.“ Was G. E. Lessing da über Shakespeares “Richard III” sagt, lässt sich auch auf die Figur Tamerlan und auf die Titelfrage in Michel Deutschs Tamerlan-Version beziehen: Wie spielt man das Ende der Welt? 
Mit dem ungleich bekannteren Richard III, der durch William Shakespeares berühmtes Drama unsterblich geworden ist, hat Christopher Marlowes Tamurlaine the Great nicht nur das lahme Bein gemeinsam, sondern auch den skrupellosen Charakter und die Bereitschaft, zur Erhaltung der Macht über Berge von Leichen zu gehen. Und ähnlich wie in Shakespeares Königsdrama „Richard III“, das nur fünf Jahre nach Marlowes „Tamerlaine“ 1592 entstanden ist, ist die Figur des Timuridenherrschers ins Monumentale gesteigert und durch das Verüben unvorstellbarer Greuel gezeichnet.
Beide Portraits sind geprägt von einer Spannung zwischen Faszination und Abscheu – in gewissem Sinn vielleicht vergleichbar mit Werner Herzogs Filmporträt des Schauspielers Klaus Kinski „Mein liebster Feind“.
Neben literarischen Verarbeitungen hat „Tamerlan“ auch Eingang in die Musikgeschichte gefunden: als Titelheld der gleichnamigen Oper von Georg Friedrich Händel.

Machtspiel und Sprachspiel

Für Bing und Mato ist das „Tamerlan“-Spiel nicht nur der Anlass und zugleich das Objekt unablässiger Auseinandersetzungen, sondern auch ein Art letzte Hoffung. „Tamerlan“ ist die Erinnerung an eine Welt vor dem Untergang – eine Welt voller Kriege und Menschen. Denn Bing und Mato sind in der Schauburg-Inszenierung die zwei letzten Menschen einer untergegangenen Welt. Sie haben alles verloren und sie haben nur noch sich selbst. Dergestalt aufeinander angewiesen und einander eifersüchtig beäugend, spielen sie das Spiel von Herr und Knecht, von Dick und Doof. Ein bisschen ist das wie die klassische Clownsituation: Kaum wird der eine abgelenkt, klaut ihm der andere den Stuhl unter dem Hintern. Und wie beim Spiel der Clowns können allein die Zuschauer die lächerliche Absurdität der Situation in ihrem ganzen Ausmaß erkennen. Unsere Protagonisten hingegen bleiben ihren Rollen verhaftet und spielen wieder und wieder. Wo kein Land und kein Volk mehr zu beherrschen ist, versuchen sie sich gegenseitig vom Thron zu schubsen. Wie zwei alt gewordene Kinder, die sich weigern erwachsen zu werden, umkreisen und bekämpfen sie sich.
Im Vordergrund steht dabei nicht die Frage nach dem Sinn der Auseinandersetzung. Das Vergnügen liegt eher im Wiedererkennen dieser grotesk vergrößerten Machtspiele, ob auf dem Schulhof oder in der Politik; für unsere Protagonisten gibt es kein Entrinnen aus ihrer tragikomischen Schlacht ohne Ende und ohne Sieg: Zu lange schon haben sie sich in der Logik ihres Streits festgebissen, um noch über die Möglichkeit zu verfügen, ihn aus der Distanz und mit anderen Augen zu sehen. Das ist allein die Chance der Zuschauer.
Bing setzt als Theridamas zu immer neuen Anläufen an, um Mato als Tamerlan vom Thron zu holen. Tamerlan träumt vom Ruhm vergangener Schlachten und Siege, von seiner Macht, vom „König-sein“, vom Ernennen und Entlassen. Theridamas liefert ihm zu Beginn noch die (Sprach-)Bilder dazu, freilich nur um sie dann umso nachhaltiger zu zerstören und als illusionär zu entlarven. Er zwingt Tamerlan dazu, sich seine Situation im Hier und Jetzt bewusst zu machen: als Mato auf einer verlassenen Insel. Und Mato hält dagegen, indem er unermüdlich versucht, Bing auf die Rolle als Theridamas festzulegen und die Bilder der Vergangenheit als gegenwärtige Realität zu behaupten.
Es gibt also zwei Spielebenen in der Inszenierung: einerseits Bing und Mato hier und heute, andererseits Bing und Mato als Theridamas und Tamerlan im Getümmel der letzten Schlacht. Und manchmal steigt einer der beiden mitten im Spiel aus und versucht das Gefecht auf der „privaten“ Ebene von Bing und Mato fortzusetzen. Schauspiel als Machtspiel sozusagen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Sprache; Sprache als Vollzug von Handlung. Greifbar wird dies zunächst in den Bildern und Träumen, die in opulenten Metaphern ausgemalt werden, um schließlich als Illusion entlarvt zu werden. Während Tamerlan beispielsweise von einer Siegesfeier träumt, beschreibt ihm Theridamas die Greuel des stinkenden und von Kadavern bedeckten Schlachtfeldes – nicht ohne Lust, versteht sich.
Greifbar wird dies auch in den Versuchen einander in der Sprache festzulegen. Nicht umsonst ist das „Ernennen“ ein Privileg der Könige. Es ist die Macht, Namen und Funktionen zu vergeben. „Nennen“ wird somit als eine sehr konkrete Form der Machtausübung verstanden. „Es bleibt noch eine ganze Pyramide von asiatischen Namen gegen den Himmel aufzutürmen, aufzuhäufen, man muss diese Namen auspressen wie überreife Früchte“, fordert Mato/Tamerlan beispielsweise. Der Kampf geht nur so lange, als Namen erinnert und ausgesprochen werden. Das Versiegen des Sprachstroms wäre der Tod und das Ende – ähnlich wie in Scheherazades Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.
Deshalb ist der Höhepunkt des Stücks auch jener Moment, da Bing droht, Mato zu verlassen. Er kündigt die Spielregeln und gibt vor, keine Lust mehr zu haben. Dies wäre nun in der Tat eine apokalyptische Vorstellung für Mato: einsam und verlassen über niemand zu herrschen.
Neben der wortreichen Verschwörung von Tamerlans Feldzügen wird Mato aber noch von ganz anderen Erinnerungen verfolgt. Wie Gestalten aus einer anderen Zeit – Sinnbilder von fast kitschigen Sehnsüchten und kindischen Ängsten, die auf die widersprüchliche Dimension des grausamen Kriegshelden aufmerksam machen und zugleich als alltägliche Banalität in den Ruhmesrausch einbrechen.
Am Ende steht ein banales Problem: „Und wer macht sauber?“ – „Der, der keine Krone mehr haben wird.“ Wer das sein wird, bleibt freilich zu klären...

Endspiel am Ende des Jahrtausends

Es geht in „Tamerlan oder Wie spielt man das Ende der Welt“ nicht nur um die Laborsituation einer Beziehung zweier Individuen, die ineinander verbissen wie zwei Hunde um die Herrschaft über den anderen kämpfen. Die Konfrontation von alltäglicher Beziehungs-Konstellation und grotesker Endzeit-Situation öffnet einen skeptischen Blick auf die Möglichkeit menschlicher Verfassung am Ende des 20. Jahrhunderts.
Natürlich grassieren pünktlich zum Ende des Jahrtausends die Visionen vom Ende der Zeiten. Neu an diesen apokalyptischen Visionen ist, dass sie selten im Zeichen göttlicher Bestrafung erscheinen, sondern vielmehr gekoppelt sind an die realen Erfahrungen des Menschen in unserem Jahrhundert. Die „Titanic“ ist zur Super-Metapher für die Amivalenz dieser Erfahrung mit dem technischen Fortschritt geworden, der mit den Segnungen auch Gefährdungen von nie zuvor gekanntem Ausmaß mit sich brachte. „Hiroshima“ beispielsweise ist einer der Namen für die apokalyptische Realität dieser technologischen Innovation. Neuestes Kapitel dieser Geschichte ist die seit Jahren schwelende und pünktlich zur Jahrtausendwende neu aufbrechende Diskussion um die Möglichkeit gentechnischer Eingriffe in die Erbsubstanz und die Entwicklung einer Biotechnologie, deren Konsequenzen unabsehbar sind. Es handelt sich hierbei um Problemfelder, denen wir nicht entkommen können; Felder, die womöglich nicht prinzipiell und grundsätzlich, aber konkret und im Bewusstsein menschlicher Bedingtheit behandelt werden können. Ein öffentlicher Ort für ein solches Nachdenken ist das Theater und seine Möglichkeit ist der „spielerische“ Umgang mit dem Abtasten der Grenzen menschlicher Verfasstheit.

Michael Deutsch

1948 in Straßburg geboren, Studium der Kunstgeschichte und Soziologie, ist heute tätig als freier Autor und Regisseur. Anfang der 1970er Jahre gehörte er zusammen mit Jean-Paul Wenzel, Michèle Foucher und Caludine Fiévet dem „Théatre du quotidien“ an, einer Art französischer Antwort auf das „kritische Volkstheater“ von Sperr, Kroetz und Fassbinder. Im Mittelpunkt der Stücke steht das alltägliche Leben der „kleinen Leute“. So lieferten Industriealltag und Fließbandarbeit die Folie für die Stücke “Dimanche“ und „La Bonne Vie“. Von 1975 bis 1983 gehörte er dem Künstlerkollektiv des Théâtre National in Straßburg unter der Leitung von Jean-Pierre Vincent an. Mit „Juste avant Tamerlan“ (1987 uraufgeführt in Villeneuve-lés-Avignon) beginnt eine Reihe von Verarbeitungen elisabethanischer Klassiker. Zu ihnen zählen „Le souffleur d’Hamlet“ (1993), „John Lear“ (1996) und zuletzt „Imprécation 36“, eine Variation auf Shakespeares „Richard III“, die auch in München (im Marstall-Theater) zu sehen war. In Deutschland bekannt geworden ist er unter anderem mit dem Stück „Sit venia verbo“ über Heideggers Rolle im Nationalsozialismus, das 1988 in Paris in eigener Regie uraufgeführt wurde. Neben zahlreichen Theaterstücken hat er auch Opernlibrettos, Essays (z.B. die Bände „L’Alsace devant le désordre“, „Inventaire aprés liquidation“) und Lyrik veröffentlicht. Für die Fernsehserie „Les Alsaciennes“ (Ko-Produktion von Pathé TV, Arte und ZDF) schrieb er gemeinsam mit Henri des Turenne das Drehbuch und erhielt dafür den Grimme Preis. Michel Deutsch lebt in Paris.

Peer Boysen

Geboren 1957 in Bochum, nach dem Abitur Ersatzdienst, seit 1957 Bühnenbildassistenzen in Nürnberg, Wien, Residenztheater München, Münchner Kammerspiele, anschließend Bühnenbildner in Mainz, Ulm, Gießen, Kaiserslautern, Hannover.
1990 erste Regie an der Schauburg „Der Sohn des Chao“. Inszenierungen (u.a.); „Weißt Du, wo mein kleiner Junge ist?“, „Polenweiher“, „Magdalena“, „Grindkopf“, „Bremer Wind“, „Ronald Akkerman“, „Wach auf und träume“, „Sneewitte – Schönheit-Giftmord-Eifersucht“, „Das glühend Männla“, „Katzelmacher“. Weitere Regiearbeiten in Freiburg und an den Münchner Kammerspielen; Opernregie in Wiesbaden, Weimar, dem Staatstheater am Gärtnerplatz und der Semperoper in Dresden.