Seiten, die auf Wach auf und träume verweisen

Die Abenteuer von Peer Gynt in der Fassung der SchauBurg

Regie und Bühne
Peer Boysen
Mitarbeit und Kostüme
Ulrike Schlemm
Musik
Toni Matheis
Es spielen
Marion Niederländer, Corinna Beilharz, Peter Wolter, Michael Vogtmann, Lisa Huber, Klaus Haderer, Sabine Zeininger, Matthias Friedrich, Silke Nikowski
Musiker
Stefan Wildfeuer

Wach auf und träume

Dauer

ca. 95 Minuten

Premiere

10. April 1997
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Nächste Termine

Tankred Dorst über Peer Gynt

„Peer Gynt habe ich schon immer geliebt, dachte auch manchmal nach, wie aus dem Lebensdrama das etwas abgestandene, altbacken-forsch wirkende späte neunzehnte Jahrhundert neu einzubringen oder zu entfernen wäre. Nun hat Peter von Becker seinen Blick auf diese Geschichte gerichtet, aus dem Stoff ein neues eigenes Stück gemacht: es wirkt heiter und frisch, poetisch und grausam. Wir können uns in diesen Szenen und Bildern wiedererkennen. Auf eine Aufführung bin ich gespannt.“(Tankred Dorst, März 1997)
 

Peer Gynt

Peer will Kaiser werden.
Sagt er.
Kaiser der Welt, sogar.
Was meint er damit?
Zunächst ist er ein Bauernjunge auf einem ärmlichen Hof. Sein Vater hat Grund und Besitz versoffen. Nichts als Schulden hinterlassen. Peer träumt von „einer Herde, die eines Tages das ganze Tal in eine goldne Wolke hülle“. Stattdessen muß er sich mit der letzten Kuh plagen, die ihn so lange ärgert, bis er ihr das Euter abschneidet.
Die Kuh ist tot. Die Mutter fassungslos. Peer lügt. Er sagt, es seien andere gewesen, die die schändliche Tat begangen hätten. Die Mutter glaubt ihm nicht. 
Auch der Lehrer glaubt ihm nicht.
Peer lügt.
Peer streitet ab.
Er will weg. Ab durch die Mitte. Über alle Berge. Hier hält ihn nichts. Die Mutter erinnert ihn an sein Erbe, den Hof. Umsonst.
Peer gerät in Verdacht, die Schule angezündet zu haben. Klaut ein Motorrad und eine Freundin, Ingrid. Gemeinsam hauen sie ab in die Berge. Es ist schön dort oben. Und doch will er nicht bleiben.
Peer will mehr.
Geld und Macht, viele Ingrids.
Peer packt seine Sachen und hat Ingrid schon vergessen. „Liebe! Liebe ist wie ne Faust. Wenn Du die Hand aufmachst ist sie fort.“
Getrieben von der Lust auf Leben zieht er weiter. Trifft auf eine Glaubensgemeinschaft, die ihn umwirbt. Peer wäre nicht Peer wenn er deren Versprechungen einfach glaubte. Mit Hilfe von Judith und unter Anwendung von ziemlicher Gewalt kann er sich aus den Fängen befreien.
Peer zieht es ans Meer. Landet auf einem Bauernhof. Unter den vielen Menschen bleibt er einsam. Jeder für sich. Mit sich beschäftigt. Abgekapselt unter einem Walkman. Peer spricht ein Mädchen an. Doch ein Gespräch kommt nicht in Gang. Wird stattdessen beklaut und verspottet. Zwei Möbelpacker kommen vorbei, die etwas schleppen, was er kennt: das Bett seiner Mutter. Der Gynt-Hof ist unter den Hammer gekommen. Alles verkaust und aufgelöst. Peer muß heim. Die Mutter liegt im Sterben. Er verspricht ihr das Blaue vom Himmel. 
Peer phantasiert.
Verspricht „ich kauf dir dein Haus und die Kuh und die Felder zurück. Ich wird rackern und ackern.“ Und kaum hat er es ausgesprochen, erträgt er es nicht: „Ich starr dem Himmel graue Löcher in die Wolken. Er stürzt nicht ein. Versauern oder versaufen. Du trinkst und trinkst, der Himmel wird nicht blau davon.“
Und er will Kaiser werden.
Noch immer.
„Meine Wünsche häng ich ans Kreuz des Südens. Bis die Sternschnuppen fallen. Ich geh in die Städte übers Meer und in die Wüste, dorthin, wo das Geld wächst.“Sagt’s und geht wieder davon.
Afrika ist seine nächste Lebensstation.
Wellen, Meer, Yacht, Reichtum.
Eisgekühlte Menschen langweilen sich an der Langeweile. Und pokern mit dem Schicksal. Jeder ist seines Glückes Schmied. Oder auch nicht. Peer hat es geschafft.
Die Welt liegt ihm zu Füßen.
Ist er Kaiser der Welt?
Das riskante Leben macht Spaß. Bis eine einfache Intrige ihn um seinen gesamten besitz bringt. Alles in die Luft geflogen. Alles verloren. Er steht vor dem Nichts. Der Zauber des Geldes ist in einem Moment verflogen.
Der tiefe Fall des Peer Gynt wird zu einem Alptraum. Zur Geisterbahn-Talfahrt. Drei Könige des Schlafs nehmen sich seiner an. Oder betäuben sie ihn?
Oder träumt er einfach schlecht?
Er landet – und weiß nicht wie – im Museum der Gegenbeispiele. Es scheint die Hölle zu sein. Eben hat er noch großspurig behauptet, dass er Eigentumswohnungen in der Hölle verkaufen wolle. Nun dröhnen ihm seine eigenen Lebensdevisen als zynisches Lebensgequassel entgegen.
Schein. Lug. Trug.
Er will weiter. Die Direktorin führt ihn durch die Räume. Hiob geht auf ihn los, greift ihn tätlich an, schleudert seine Schmerzenspfeile nach ihm. Eva attackiert den Erzengel Gabriel, der Untode Napoleon erschießt ihn gar. Sein Alter Ego tritt auf, der Alte Peer. Das Wesen hat weder Gesicht noch Mund. „Ein Namenloser. Einer, der nie sein eigenes Gesicht besaß. Aussatz. Wegfraß.“ Und doch erkennt Peer ihn. Ist er selbst es nicht, der ihm da gegenübersteht.
Triumph der Direktorin. Peer verliert die Fassung. Der Junge vom Bahnhof, der ihn einst beklaut hat, taucht auf. Blutüberströmt. Geisterfahrer.
Peer ist am Ende.
Er kann nicht mehr.
Will weg.
Er hat genug gesehen.
Eine Schiffsüberfahrt bei Sturm muß überstanden werden. Passagiere gehen über Bord. Weltuntergang. Da hat Peer schon wieder Oberwasser. Mit Geld versucht er, sich einen Platz im Rettungsboot zu erkaufen. Der Kapitän lehnt ab. Frauen und Kinder zuerst. Nicht die Alten. Peer wird an Lang gespült. Strandgut. An der Stelle, wo er aufgebrochen ist zu seiner weltumspannenden Lebensreise. 
Hat sich die Anstrengung gelohnt?
War der Preis zu hoch?
War er Kaiser der Welt?
Egal, am Ende gibt es eine, die die ganze Zeit auf ihn gewartet hat und ihm zuruft. „Wach auf, Peer, und träume.“
(Alle Zitate stammen aus dem Stück.)

Märchen- und Sagen des Nordens

Trolle, Bergriesen, Nöcken und Kobolde bevölkern die Märchen- und Sagenwelt des hohen Nordens. Aus dieser Landschaft mit langen, harten Wintern und spärlichem Licht, aber auch dem ungeheuerlichen Naturereignis der Mitsommernacht, wenn der Tag nicht endet – aus dieser Gegend stammt Peer Gynt.
Trolle sind laut Selma Lagerlöf hässlich, haben Haare wie Borsten, scharfe Zähne und eine Kralle am kleinen Finger. Sie ernähren sich von Fröschen und Mäusen. Groß und wulstig sind ihre Lippen, die Augen stehen wie steife Bürsten am Kopf, und ihre Haut ist ganz braun.
Bei Ibsen, dem von Tankred Dorst angesprochenen Autor des neunzehnten Jahrhunderts, wird von zwei- und dreiköpfigen Trollen gesprochen, die Schwänze haben. Sein Peer Gynt wird in das Reich dieser nordischen Dämone gelockt, und nur Glockengeläut erlöst ihn aus dem magischen Bann.
Für Menschen aus dem südlicheren Europa ist es unmöglich sich vorzustellen, wie Trolle aussehen könnten. Wahrscheinlich deshalb haben die Bergfexe in unserer Aufführung eine bayerische Einfärbung. In den Augen eines Menschen sind sie auf jeden Fall furchterregende Wesen.
Der Gynt-Hof ist geschleift. Nach dem Bankrott ist das Gut dem Verfall ausgesetzt. Die Letzten, die in der Ruine ein Plätzchen gefunden haben, sind Trolle. Zum Zeitvertrieb spielen sie immer wieder die Rolle des letzten Bewohners, Peer Gynt, des Sonnyboys und Aufsteigers, des Tunichtgut und Draufgängers.
Trolle sind selbstgenügsame Wesen. Daher beschreiben sie die Geschichte von einem, der Kaiser werden wollte, mit einer gehörigen Portion Distanz. Machtstreben, Größenwahn, Selbstverwirklichungs-Sehnsüchte sind ihnen ganz fremd. Ihr Vergnügen beim Spiel ist viel mehr: „Wer von uns spielt Peer?“ Von Station zu Station wechselt die Besetzung. Manche Szenen aus dem Lebensweg des Peer Gynt sind beliebt, dann reißen sich alle darum, Peer zu spielen, bei anderen wird einer der neun Trolle gezwungen, die Rolle zu übernehmen. Kindheit auf dem Land, Schule, erste Freundin, Suche nach dem Sinn des Leben, Rückkehr zur sterbenden Mutter und Wideraufbruch, die Welt des Geldes und der Macht, Absturz und Lebensbilanz – Alle Situationen der Geschichte werden von Trollen überliefert. Durch dieses Erzähl-Konzept verhindert der Regisseur den moralischen Zeigefinger. Es sind Märchenfiguren, die eine Geschichte erzählen und keine Erwachsenen, die vor einem Lebenssucher wie Peer warnen. Einem Egoisten und Draufgänger, einem, der nur an sich selber denkt. Diese „Botschaft“ könnte aus Ibsens Peer Gynt rausgelesen werden. Solch moralinsaures Missverständnis wollen wir unbedingt vermeiden und lieber Fragen beim Zuschauer auslösen, Fragen nach der Triebfeder des Lebens, Fragen statt Antworten.

Peer Gynt und weiter...

Kennen sie Ibsen?
Nein. Wie tanzt man das?

(überliefert von Prof. Dr. Jörg Richard)

Peer Gynt von Ibsen wird gerne als Weltanschauungsdrama apostrophiert. Damit hat Peer von Beckers Peer Gynt nichts zu tun. Der Autor hat die Figur in die heutige Zeit weitergeschrieben. Deshalb braucht man Ibsen auch nicht zu kennen, um „Wach auf und Träume“ zu sehen. Das Stück wirft auf kunstvolle Weise eher die Frage bei jungen Leuten auf, ob die überlieferten Werte noch einen Wert haben. Und manchmal tun es die Trolle durch die Art, wie sie die Geschichte erzählen. Ein Hohngelächter auf die bürgerliche Werte ist es, was sie immer wieder mir ihrer Erzählung anstimmen.
Warum soll man den Hof des Vaters übernehmen, wenn er in der neuen Zeit nichts mehr wert ist? Warum die Schule nicht abbrechen, wenn die Schule des Lebens interessantere Antwort zu bieten hat? Wozu Treue, wenn die Gier nach Leben zu groß ist? Wer nicht reich und mächtig ist, der ist doch gleich ein armer Tropf. Und zu denen will doch wahrlich niemand gehören. Und alles hat seinen Preis. Na und.
Die Vorstellung beschäftigt sich mit aktuellen Fragen. Lebensplanung in dem Sinne, wie sie für Eltern noch selbstverständlich war, ist für die junge Generation von heute unmöglich, weil sinnlos.
Alle ökonomischen und gesellschaftlichen Vorhersagen prognostizieren eher, dass sich die Jugend auf einen vielverästelten Lebensweg einstellen muss. Wie man erleben kann, ein solch beispielloses Dasein zu bewältigen, dafür gibt es noch keine überzeugenden Vorschläge. Fest steht nur, dass eine lineare Biographie mit Schule, Ausbildung, Beruf bis zur gesicherten Altersvorsorgung, wobei die Wechselfälle des Lebens wie Krankheit, Verarmung oder Tod von der Gemeinschaft aufgefangen werden, für die Jugend unwahrscheinlich wird. Viel eher werden sie gezwungen sein, im Laufe ihres Lebens mehrmals den Beruf zu wechseln, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit. Der Wert von Arbeit wird sinken, entscheidend sind Renditen. Altersabsicherung und Generationenvertrag werden bis dahin abgeschafft sein. Da hat Peer Gynt doch recht mit seiner Art zu leben! Er hat einen Traum. Den Traum vom aufregenden Leben. Er lebt ihn. Neugierig, konsequent und manchmal rücksichtslos gegen andere und sich selber.

Peter von Becker

Geboren 1947, lebt als Autor, Essayist und Kritiker in München, war bis vor kurzem Mitherausgeber der Zeitschrift „Theater Heute“ in Berlin, leitet ab Frühsommer 97 das Feuilleton des Berliner „Tagesspiegel“.
Buchveröffentlichungen (u.a.) „Der überraschte Voyeur. Theater der Gegenwart“, „Die kopflose Medusa. Gedichte“, „Die andere Zeit, Roman“.