Seiten, die auf Die Stühle verweisen

Deutsch von Jacqueline und Ulrich Seelmann-Eggebert

Regie:
Beat Fäh
Bühne:
George Podt
Kostüme:
Giesela Höfer
Es spielen:
Peter EnderIlona Grandke

Die Stühle

Dauer

80 Minuten

Alter

Ab 15 Jahren

Premiere

09. Oktober 2003

Der Alte und Die Alte geben einen Empfang, auf dem ein Redner ihre Lebensbotschaft geladenen Gästen übermitteln soll. Die Gäste kommen. Sie werden begrüßt, ihnen wird ein Stuhl angeboten und Konversation wird gemacht. Merkwürdig ist allerdings, dass das Publikum die Gäste nicht sehen kann. Und als der lang erwartete Redner endlich kommt, stellt sich heraus, dass er taubstumm ist. Eine absurde Situation! Ein Stück mit der grundsätzlichen Frage nach dem Schein und dem Sein. Aber auch ein Stück über zwei Menschen, die den Sinn ihres Daseins in der Verkündung einer leeren Heilsbotschaft sehen und in der komisch-tragischen Verfolgung dieses Ziels sich schließlich selbst verlieren.

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Die Stühle

„Ich habe gesagt, die Menschen bilden sich ein zu denken. In Wirklichkeit wiederholen sie nur Parolen. Selbst die Philosophen, so scheint mir, sagen Falsches und berauschen sich an Worthülsen. Ich glaube, dass niemand irgendetwas weiß. Ich staune jedes Mal aufs Neue darüber, wie es gelingt, Maschinen zu bauen, dass man es schafft, bis auf den Mond zu kommen, und wenn ich an etwas glauben kann, dann an die Stärke und die einzigartige Wahrheit von Technik. Aber da die Technik sich von wissenschaftlichen und philosophischen Gesetzen herleitet, gibt es wahrscheinlich eine Wissenschaft, womöglich auch Ideen von Allgemeingültigkeit. Aber ich habe den Eindruck, dass sich mir jede Wahrheit entzieht.“
(Aus: Eugène Ionesco, „Wortmeldungen“)

Ein Mann – DER ALTE – und eine Frau – DIE ALTE – leben auf einer von Wasser umgebenen Insel. Sie wohnen schon sehr lange dort, und die Welt ist weit weg. Der Alltag hat das Leben der beiden fest im Griff: Es erschöpft sich in gedankenleichter Langeweile, im Erzählen der immer gleichen Geschichten oder im Vorspielen von Scharaden.

Doch dieser Tag soll anders werden. DIE ALTE findet, dass nun endlich die Zeit gekommen sei für die Verkündung der Lebensbotschaft des ALTEN an die Menschheit. DER ALTE, kindlich überrascht und herausgefordert, erinnert sich an dieses Vorhaben und siehe da, er hat schon „...etwas im Bauch. Eine Botschaft, die ER der Menschheit verkünden muss, der ganzen Menschheit;...“. Und eingeladen hat er die Menschheit auch schon, als deren Repräsentanten Vertreter aller Gesellschaftsschichten kommen sollen. Da es ihm schwer fällt selbst zu sprechen, hat er zum Zweck der wichtigen Verkündigung einen Berufsredner bestellt, der in seinem Namen sprechen wird. Versammlungsbeginn, lässt DER ALTE wissen, ist GLEICH.
Die ganze Menschheit ist im Anmarsch. Es läutet unaufhörlich. Türen öffnen sich. Während DIE ALTE dauerhaft damit beschäftigt ist, neue Stühle in die Wohnung zu schleppen, kümmert sich DER ALTE um die Begrüßung der Gäste. Eigenartig daran ist nur, dass die Zuschauer die Gäste nicht sehen können. Sonderbar.

Dennoch entspinnt sich zwischen DEN ALTEN und den für das Publikum unsichtbaren, aber dennoch anwesenden Gästen, eine rege Konversation. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass sich DIE ALTEN ihre Gäste vielleicht einbilden, dass sie womöglich verrückt sind.

Dann erscheint DER REDNER. Noch bevor er seinen Vortrag beginnen kann, springen DIE ALTEN aus dem Fenster, in der Hoffnung, ihr Leben würde durch ihre vom REDNER vorgetragene, alles erklärende Botschaft zur ruhmvollen Legende: „Ja, ja, wir sterben auf dem Gipfel des Ruhms ... wir sterben, um in die Legende einzugehen ... Beklagen wir uns nicht zu sehr ...“. Nach diesem Doppelselbstmord stellt sich heraus, dass DER REDNER taubstumm ist, weshalb es auch nicht zu einer Verkündigungsrede an die Menschheit kommt. Stattdessen malt er sinnlose Zeichen an die Wände und geht schließlich wieder ab. Was übrig bleibt sind Stühle oder eine Menschenmenge – je nach dem – und eine leere Heilsbotschaft.

Ein Stück mit der grundsätzlichen Frage nach dem Schein und dem Sein. Ein Stück, das sich mit der Wahrheit hinter der äußeren Erscheinung der Dinge auseinandersetzt? Erkennen wir noch diese Wirklichkeit, oder erschöpft sich unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein von der Welt nur in der Wahrnehmung ihrer bloßen äußerlichen Erscheinung? Es ist aber auch ein Stück über zwei Menschen, die den Sinn ihres Daseins in der Verkündung einer leeren Heilsbotschaft sehen und in der komisch-tragischen Verfolgung dieses Ziels sich schließlich selbst verlieren.

Generationen – Blickwinkel

"Seit ich lebe, hat es alle möglichen Arten von Jugend gegeben und immer hieß es: 'Sie sind für die Jugend?', 'Sie sind gegen die Jugend?', 'Was denken Sie von der Jugend?' Ich halte die Jugend für ein Übergangsphänomen, das ungefähr fünfzehn Tage lang dauert und als Problem nicht weiter berücksichtigt werden muss. Ich spreche weder zu Alten noch zu Jungen, ich spreche zu Menschen." (Aus: Eugène Ionesco, „Wortmeldungen“)

Zugegeben, wenn man von Ionescos Stück „Die Stühle“ spricht, denkt man nicht als erstes an eine Umsetzung an unserem Theater. Doch bei genauerem hinschauen fragt man sich Warum? Sind die Berührungsängste zwischen solchen Stücken und einem Jugendtheater begründet oder nicht? Um es vorweg zu nehmen, sie sind es nicht.

Schon der Beginn des Stückes weist in diese Richtung: Wir sehen einen Mann und eine Frau in einer Alltagssituation, die so archetypisch ist, das sie von jedem Zuschauer wiedererkannt werden kann. Mann und Frau haben einen mehr oder weniger launigen Disput, und jeder versucht seine Meinung dem Anderen gegenüber zu behaupten. Sie führen diese Meinungsverschiedenheiten niemals ernsthaft bösartig sondern eher fürsorglich mütterlich, DIE FRAU, und träumerisch bubenhaft, DER MANN:

"FRAU. Mach das Fenster zu, es riecht nach faulem Wasser. Die Schnaken kommen sonst ‘rein.

MANN. Lass mich...

FRAU. Setz dich. Du fällst noch ins Wasser. Du musst Achtgeben.

MANN. Ich will etwas sehen, die Boote auf dem Wasser machen Flecke auf die Sonne.

FRAU. Du kannst ja gar nichts sehen. Es scheint gar keine Sonne. Es ist dunkel.

MANN. Aber da sind noch Schatten."

Klar, Erwachsene können sich unmittelbar in diesen Figuren wiederfinden und so das Bühnengeschehen über die Identifikation direkt miterleben.

Jugendliche hingegen kennen solche Situationen aus der Beobachtung der eigenen Eltern. Das ist einer der Punkte, der uns bei der Arbeit interessiert hat, nämlich Situationen herauszuarbeiten, die jeder Jugendliche aus der Beobachtung der älteren Generation kennt. Die Jugendlichen werden über Vorgänge lachen oder nachdenken, die sie aus der Erfahrung mit Erwachsenen (Eltern, Lehrern, ...) kennen und auf der Bühne tragisch-komisch verzerrt wiederentdecken. Sie werden also über etwas lachen, was sie persönlich noch nicht betrifft. Ob komische, peinliche, coole, traurige oder nachdenkliche Situationen, all das findet sich in der Inszenierung wieder. Das Stück strotzt vor bissig-heutigem Humor und grotesken Szenen, aber auch vor Szenen von bodenloser Dramatik. Man ist sich nie sicher, wohin die szenische Reise als nächstes geht.

Die Erwachsenen tun nicht viel anderes. Durch ihre unmittelbare Identifikation mit den Figuren werden sie allerdings immer dann über sich selbst lachen oder dramatisch berührt sein, wenn ihre eigene Lebenserfahrung auf der Bühne dementsprechend tragisch-grotesk übersteigert wird. Das heißt, Jugendliche und Erwachsene machen gewissermaßen die gleiche kathartische Entwicklung durch, obwohl sie aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln gestartet sind. Hierin liegt auch einer der Gründe dafür, weshalb wir „Die Stühle“ an der Schauburg aufführen wollten.

Übrigens: Hinsichtlich der schlechten Verständigung der Generationen untereinander wirbt dieses Stück auf geradezu heutige Art und Weise lustvoll um das Verständnis der jüngeren Generation für die Situation der älteren Generation. Und das, liebe Oldies, ist angesichts der demographischen Entwicklung und aktueller Hüftgelenkdiskussionen nicht die dümmste Verständigungsmethode.

Schein und Sein

Ein weiterer Beweggrund für uns, das Stück auf den Spielplan zu setzen, ist das rätselhafte Spiel mit dem äußerlichen Schein einer Sache und dem, was die Sache eigentlich ist.

Es kommen Gäste, die vom Zuschauer nicht gesehen werden. Die Figuren des Stücks sehen sie aber, denn sie verhalten sich dementsprechend. Ein Spiel mit unserer Wahrnehmung oder das, was wir dafür halten. Vergleichen könnte man es mit der Fähigkeit eines Chamäleon, sich an die jeweilige Umgebung äußerlich anzupassen: Was wir sehen, ist nur ein anderer Schein der gleichen Sache. Und um diese Sache geht es. Wir verlieren zunehmend die Fähigkeit, hinter das äußerliche und reale Erscheinungsbild einer Sache blicken zu können. Wer entdeckt noch hinter den fröhlichen, bunten, scheinbar-realen Werbebotschaften die Wirklichkeit? Was meinte Bush, als er vor dem Irakkrieg sagte, im Irak gibt es Atomwaffen? Und was heißt es, wenn Bush nach Beendigung des Krieges sagt, es gibt keine Atomwaffen im Irak? Was erzählt uns das Lachen barocker Engel? Welcher gesellschaftliche Ausdruck wird hinter der medialen Unerhaltung sichtbar? Was sagen uns Höhlenmalereien aus steinzeitlichen Epochen? Für einen logischen und kausalen Verstand mögen diese abstrakten Fragen absurd sein, doch für die Zukunftsfähigkeit junger Menschen sind derartige Fragestellungen unabdingbar.

"Wenn der Mensch sich nicht mehr um die Probleme der letzten Dinge kümmert, wenn ihn einzig das Geschick einer politischen Nation, die Wirtschaftslage interessiert, wenn die großen metaphysischen Probleme ihn nicht mehr schmerzen, sondern gleichgültig lassen, dann ist die Menschheit herab gewürdigt und wird bestialisch. Nichts scheint mir so bedauerlich dumm, als sein Leben an irgendeine politische Partei zu verkaufen."
(Aus: Eugène Ionesco, heute und gestern, gestern und heute, Tagebuch)

Theater – Trainingsplatz für Wahrnehmung und Bewusstsein

Im Theater kann man diese Fähigkeit, hinter die Wirklichkeit einer Sache sehen zu können, trainieren, um damit schließlich die Grundvoraussetzung jeglicher Wissensaneignung zu erfüllen: Die Fähigkeit nämlich, die in ihrer Abstraktheit wahrgenommene Welt entschlüsseln zu können. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist Theater kein Medium der Bilder. Theater ist vielmehr ein Medium der Zeichen. Und da man im Theater lernt, Zeichen zu dechiffrieren, Symbole zu deuten, wird man im besten Falle befähigt, die Dinge hinter dem äußeren Schein der realen Welt entdecken zu können. Noch mal: Diese Form des abstrakten Denkens ist eine Schlüsselqualifikation, die junge Menschen für ihre Zukunftsfähigkeit dringend brauchen. Die Inszenierung von Ionescos „Die Stühle“ trägt zur Erlangung dieser Qualifikationen bei.
 

Wesentlich ist die Tatsache, dass man sich klar darüber wird, dass man Mensch ist, dass man sich der eigenen Lage gegenüber der Welt bewusst wird, die man fast nie als seine Welt empfindet. Diese Lage ist unangenehm, aber die ursprünglichste, die Ursituation." (Aus: Eugène Ionesco, „Bekenntnisse“)